Ob ihn überhaupt jemand gehört hat? Nach all den lautstarken Forderungen nach einer multipolaren, den Hegemonialansprüchen des Westens trotzenden Welt kam am Ende des Brics-Gipfels in Johannesburg schließlich auch Uno-Generalsekretär António Guterres zu Wort. Dessen leidenschaftliches Plädoyer widersprach der Forderung nach Pluralität nicht. Doch wenn Multipolarität nicht in Multilateralismus eingebettet sei, führe sie zu Zersplitterung und letztlich zum Krieg, warnte er.

Multipolarität beschreibt ein Verhältnis von mehreren Machtblöcken, die von großen Staaten dominiert werden. Multilateralismus hingegen strebt – im Idealfall – die gleichberichtigte Zusammenarbeit aller Länder an.

Gruppenfoto der Teilnehmer des Brics-Gipfeltreffens
Das obligate "Familienfoto", das von EU- oder Nato-Gipfeln bekannt ist, durfte natürlich auch bei der diesjährigen Zusammenkunft der Brics-Staaten nicht fehlen.Beim Shakehands: Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa (links) und der indische Premier Narendra Modi.
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Multilateralismus unterscheidet sich von Multipolarität wie ein Fluss von einem Eisberg: Er betont die Verbindung statt das Gegenüber. Für den Multilateralismus gibt es bereits ein Zuhause: die Vereinten Nationen, die Uno. Sie wurde vor fast 80 Jahren in einer Welt von gestern gegründet. Heute sind viele ihrer Gremien obsolet geworden, vor allem der Sicherheitsrat. Die Brics-Mitglieder Indien, Brasilien und Südafrika werden nicht müde, eine UN-Reform zu fordern. Doch während des dreitägigen Gipfels war kein Wort davon zu hören.

Warum nicht? Weil China – wie auch Russland – kein Interesse daran hat. Und ohne China geht in Brics nichts; höchstens Indien wagt es gelegentlich, gegen den Stachel zu löcken. Doch am Ende setzt sich der Drache durch – auch bei der Brics-Erweiterung.

Video: Brics-Gruppe nimmt Anfang 2024 sechs weitere Länder auf.
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Der Club wird nicht netter

Die Aufnahme sechs weiterer Staaten lässt den Club nicht netter aussehen, im Gegenteil. Als einzige unumstrittene Demokratie kommt Argentinien hinzu. Der Rest sind Monarchien, eine Theokratie, eine faktische Militärdiktatur und die nur dem Namen nach demokratische Kriegsrepublik Äthiopien. In diesen Staaten hat das Volk wenig oder gar nichts zu sagen. Im Iran, in Äthiopien und in Ägypten wird es bekämpft, in den arabischen Monarchien mit Ölmilliarden still gehalten.

Das Kriterium für eine Brics-Aufnahme war nicht eine gute Regierungsführung, sondern vielmehr die Geografie, die Populationsgröße oder die wirtschaftliche Bedeutung – und, im Fall der arabischen Monarchien: das Erdöl. Kein gutes Omen für den Klimawandel.

Schon die bisherigen Brics-Staaten hatten wenig mit ihren Zivilgesellschaften, mit Transparenz und guter Regierungsführung zu tun, wie beim Johannesburger Gipfel wieder deutlich wurde. Zu diesem gehörte ein Wirtschaftsforum, aber kein Forum für Nichtregierungsorganisationen (NGO). Proteste der Bevölkerung gegen eine der Brics-Regierungen oder einen Missstand wurden in einen vier Kilometer vom hochgesicherten Kongressgebäude entfernten Park verbannt, wo die Sicherheitskräfte den Demonstranten zahlenmäßig weit überlegen waren. Herkömmliche Pressekonferenzen, auf denen Journalisten Fragen stellen können, waren nicht Teil des Gipfels: Bei der einzigen Begegnung der sechs Brics-Präsidenten mit Reportern saßen Erstere wie immer auf einem Podium, Letztere über 30 Meter weit entfernt. Nachdem jede der "Exzellenzen" ihren Beitrag verlesen hatte, war die Veranstaltung vorbei.

Alternative zum Westen?

Soll das die Alternative zur Hegemonie des Westens sein? Nicht, dass die klassischen Industrienationen verherrlicht werden sollen: Ihre Politik wirkt oft heuchlerisch – etwa wenn der Irak ohne Uno-Mandat überrollt wird, während dasselbe in der Ukraine als teuflisch betrachtet wird. Auch die USA geben keinen Deut auf multilaterale Institutionen, wenn sie – wie der Strafgerichtshof in Den Haag – der Großmacht in die Quere kommen könnten. Und mit Solidarität mit dem Globalen Süden haben die Agrarsubventionen der EU, ihre Migrationspolitik und die Impfstoff-Beschaffungspolitik auch nichts zu tun. Aber wenigstens kann man im Westen Regierungschefs bei Fehlern kritisieren und sie bei nächster Gelegenheit abwählen. Das geht weder im Iran noch in Saudi-Arabien oder China.

Nun könnte man sich mit der Erwartung über die besorgniserregende Brics-Erweiterung hinwegtrösten, dass die Organisation ohnehin keine wichtigen Beschlüsse fassen wird. Zu unterschiedlich sind die Interessen Südafrikas und Saudi-Arabiens, Indiens und des Iran, Ägyptens und Äthiopiens. Allerdings ist damit zu rechnen, dass China seine Hegemonie in dem disparaten Bündnis nutzt, um es vor seinen Karren zu spannen. Wie geschickt Peking in solchen Zusammenhängen vorgeht, hat es schon unzählige Male bewiesen.

Chinas Präsident Xi Jinping am Konferenztisch
China, beim Brics-Gipfel durch Präsident Xi Jinping vertreten, spielt global eine immer wichtigere Rolle.
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Außer der Multipolarität ist noch eine andere Phrase unter den Brics-Regierungschefs en vogue: die Solidarität zwischen den Staaten des Globalen Südens. Der Nordwesten gilt als eigennützig, neokolonial und ausbeuterisch, der Süden hingegen als fürsorglich und solidarisch. Am ersten Teil des Satzes ist zweifellos viel Wahres dran, doch sein zweiter Teil klingt nach Augenauswischerei. Für China und Russland ist Afrika genauso wie für Frankreich und die USA wegen seiner Bodenschätze und seiner riesigen, noch unerschlossenen Märkte von Bedeutung. Selbst Südafrika, der am meisten industrialisierte Staat des Kontinents, exportiert vor allem Rohstoffe nach China und importiert dessen hergestellte Waren – ein typisch neokoloniales Verhältnis, das nichts zur Entwicklung des Kontinents beiträgt.

Russland und Afrika

Noch fragwürdiger ist das Verhältnis Russlands zum Kontinent im Süden: Moskau liefert vor allem Waffen und neuerdings auch Söldner (etwa die Wagner-Truppen), die nicht nur Jagd auf "Terroristen", sondern auch auf die Zivilbevölkerung machen.

Westliche Regierungen mögen sich zuweilen zumindest Mühe geben, ihr Verhältnis zu Afrika auf Augenhöhe und zum Nutzen des Kontinents zu gestalten. Fragt man Vertreter der afrikanischen Zivilgesellschaft – Lehrerinnen, IT-Programmierer oder Juristen –, wer derzeit Bedeutendes zur Entwicklung des Kontinents beiträgt, sie werden jedenfalls keinen der Brics-Staaten nennen. Nicht einmal China.

Mit dem 15. Brics-Gipfel in Johannesburg ist die Welt eine andere geworden. Nach mehr als drei Jahrzehnten Hegemonie der USA legt sie sich wieder einen zweiten Pol zu, der sich von Moskau in den Südosten Richtung Peking verschoben hat. Das mag für einen Übergang zu einer multilateralen Welt nötig sein. Kommt es jedoch nicht zur Stärkung einer vermittelnden und übergeordneten UN-Architektur, wird die Folge ein neuer Kalter Krieg zwischen der nordwestlichen und der südöstlichen Welt sein. Und wenn sich zwei Elefanten streiten – so sagt ein afrikanisches Sprichwort –, dann leidet das Gras. (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 25.8.2023)