Wer eine Geschichte über den Niedergang Deutschlands schreiben will, wird diesen Sommer an allen möglichen Orten fündig. Selbst auf Toiletten. Das Institut für Hygiene und Öffentliche Gesundheit der Uni Bonn zeigt in einer neuen Studie, dass viele Berliner Schultoiletten in einem desolaten Zustand sind. In der Hälfte aller untersuchten Schulen funktionieren Sanitäranlagen nicht. In 60 Prozent gibt es grobe Beschädigungen wie Löcher in der Wand, heißt es in der nicht repräsentativen Analyse.

Die Sache ließe sich als Nebensächlichkeit abtun, wären da nicht noch andere, größere Zeichen des Verfalls. Über die Deutsche Bahn lästert sowieso jeder, dazu kommt die Schwäche der Wirtschaft. Nach einer Mini-Rezession gab es im dritten Quartal 2023 ein Nullwachstum. Deutschland ist damit die sich am schwächsten entwickelnde Volkswirtschaft unter allen großen Industrienationen. Und die Stimmung in den Chefetagen ist so schlecht wie seit August 2020 nicht mehr, als der Pandemieherbst im Anmarsch war, zeigt eine am Freitag veröffentlichte Umfrage des deutschen Ifo-Instituts unter 9000 Betrieben.

Die Zutaten für diese Entwicklung sind bekannt: Die Konsumausgaben schwächeln angesichts der hohen Inflation. Die Produktion in energieintensiven Branchen wie der Chemieindustrie ist zurückgegangen, in der Spitze bis zu 20 Prozent. Die Frage, die Regierung wie Ökonomen umtreibt, ist, wie nachhaltig diese Krise wirklich ist. Das bleibt unklar.

Zu viel totgeredet?

Die Ausgangssituation für die Gesamtwirtschaft ist jedenfalls gar nicht nur schlecht – und das Krisengeschrei wohl etwas gar zu laut. Aktuell verbessert sich die Konsumlaune der Deutschen bereits, 2024 dürften die Löhne zulegen und die Kauflust damit steigen. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig geblieben und steigt kaum. Auch die Industrie gibt starke Lebenszeichen von sich: Von Jänner bis Ende Juni liefen 2,2 Millionen Fahrzeuge vom Fließband deutscher Autobauer. Das ist ein Plus von mehr als 30 Prozent zum Vorjahr. Die Güterausfuhren legten im ersten Halbjahr 2023 ebenfalls zu. Und energieintensive Produzenten haben sich etwas erholt, Strom- und Gaspreise sinken seit Monaten.

Warum dann überhaupt das Gerede vom "kranken Mann Europas" in deutschen und internationalen Medien? Eine Antwort darauf lautet, dass damit politisches Kleingeld gemacht werden soll, wie der deutsche Ökonom Achim Truger sagt, der dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der deutschen Wirtschaft angehört. So werden derzeit diverse Rufe nach Strukturreformen, Bürokratieabbau und Privatisierungen laut – und Industriekapitäne verlangen mehr Förderungen.

Dem Standort geht es schlechter

Nichtsdestoweniger gibt es auch ganz reale Probleme. Deutschlands Industrie befindet sich seit 2017 in einer Schwächephase, sagt der Chef des Forschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr. Die Produktion entwickelt sich schwächer als in Österreich (siehe Grafik). Ein Grund ist, dass deutsche Autobauer zunehmend ihre Produktion nach China, Ungarn und in die Slowakei verlagern. VW, BMW und Co geht es also besser als dem Standort. Das hilft auch Österreichs Zulieferern, die von den Problemen im Nachbarland weniger getroffen werden als erwartet, weil sie mehr nach Osteuropa und China liefern. Das ist freilich kein Trost für Deutschland.

Industrie im Vergleich
STANDARD

Dazu kommen sehr wohl Probleme der Betriebe. Die Autobauer kämpfen mit der Umstellung auf Elektromobilität. Deutschlands Industrie produziert energieintensiver als die anderer Länder, die chemische Erzeugung ist ein Standbein. Und die Energiepreise dürften auf absehbare Zeit über dem Niveau in Asien und den USA bleiben. Dazu kommt, dass die Auftragslage schlecht ist, die guten Produktionszahlen der Autobauer könnten somit ein Strohfeuer sein.

Die Frage ist: Wie damit umgehen? "Es besteht kein Grund für Alarmismus, aber die deutsche Regierung sollte in die Gänge kommen", fordert Ökonom Truger. Auf dem Tisch liegt ein "Wachstumschancengesetz" von FDP-Finanzminister Christian Lindner, mit dem die Investitionslust der Unternehmen durch Prämien angeregt werden soll. Das Paket ist nicht sehr groß, pro Jahr 6,5 Milliarden Euro sollen lockergemacht werden. Die FDP will ja parallel auch an der Schuldenbremse festhalten. Über das Gesetz wird noch gestritten. Der heftigere Kampf tobt um eine Subventionierung der Industriestrompreise bis 2030. Das grüne Wirtschaftsministerium unter Robert Habeck ist sehr dafür, Lindner bremst hier.

Gute Jobs auf dem Land

Während Ökonom Truger einen befristeten Industriestrompreis befürwortet, solange noch nicht genug Energie aus erneuerbaren Quellen zur Verfügung steht, kommen auch kritische Stimmen. Gabriel Felbermayr etwa fände eine Debatte dazu wichtig, welche Erwartungshaltungen es ans Industriewachstum in einem Land mit zunehmend alternder Gesellschaft überhaupt gibt. Subventionen können Probleme am Standort, etwa den Mangel an Fachkräften, nicht lösen.

Der Chef des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, hat vor kurzem eine interessante Debatte dazu angestoßen: In Deutschland ist der Anteil der Industrie höher als im europäischen Schnitt. Wobei es nicht ausgemacht sei, dass Länder mit einem niedrigeren Industrie- und einem höheren Dienstleistungsanteil automatisch ärmer seien, so Fuest in der Zeit. Er verwies auf die USA und zeigte sich skeptisch bezüglich der Strompreissubventionen. Felbermayr kann dem etwas abgewinnen, sagt aber, dass ein hoher Industrieanteil Vorteile biete: Der Dienstleistungssektor sei oft urban konzentriert, während Industrie auf dem Land stark sei. Und: Auch Menschen ohne hohe Qualifikation fänden in der Industrie gut bezahlte Jobs.

Ökonom Truger argumentiert, dass es aufs Tempo des Wandels ankommt: Geschehe der zu schnell, sei das fatal. Tatsächlich gibt es Kritik an dem Vorschlag zum Industriestrom-Konzept, weil der Anteil der Energiekosten an gesamten Produktionskosten der Unternehmen begrenzt ist. Truger wendet dagegen ein, dass selbst die Abwanderung einzelner Branchen, etwa der Papierindustrie, einen großen Effekt haben kann, wenn auch Zulieferketten in der Folge zusammenbrechen. Und der Ökonom Michael Hüther vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft sagt, dass ohne subventionierten Strompreis, bestimmte Branchen wie die Stahlindustrie in Deutschland nicht zu halten sind. Die Entscheidung über die neue Subvention der Industrie wird jedenfalls in den kommenden Wochen erwartet. Fix ist: Sollte Deutschland ein Hilfspaket auflegen, wird die Debatte darüber, ob ähnliche Hilfen notwendig sind, auch in Österreich starten. (András Szigetvari, 25.8.2023)

Die deutsche Autoindustrie steckt im Umbruch.
EPA