Der Krieg in der Ukraine wird das Verhältnis der EU-Staaten untereinander und insbesondere das politische Gewicht der Mitgliedsländer in Ost- und Ostmitteleuropa in der Gemeinschaft nachhaltig verändern. Noch ist unklar, ob es am Ende zu einer Stärkung nationalstaatlichen Bewusstseins der Mitglieder kommt oder einer Stärkung der Gemeinschaft.

Ivan Krastev: "Das gemeinsame Europa, das wir kennen, existiert so nicht mehr."
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"Sicher scheint aber: Das gemeinsame Europa, das wir kennen, existiert so nicht mehr. Es kann besser oder schlechter werden, aber es wird anders sein als bisher." So lautete die Diagnose des aus Bulgarien stammenden Historikers Ivan Krastev bei einer Expertendiskussion beim Forum Alpbach unter dem Titel "Geopolitisches Erwachen von Ost- und Ostmitteleuropa".

Nun ist die These, dass die Länder dieses Raumes – von den drei baltischen Staaten im Norden bis Rumänien am Schwarzen Meer – überhaupt als kohärenter Block zu sehen sind. Diese fast ein Dutzend Staaten mit dem Westbalkan im Süden als Nachbarn sind kein geschlossener Block, sondern sehr unterschiedlich.

Erfahrung mit Autokraten

Ihnen gemein ist aber, dass sie vor fast zwanzig Jahren in zwei Etappen als große Erweiterungsgruppe von der EU aufgenommen wurden, in ihrer Verschiedenheit aber von den "alten" westlichen EU-Ländern aber nur schwach wahrgenommen wurden, lange ohne großen Einfluss blieben – oder wie Ungarn unter Viktor Orbán selbst isoliert. Der Krieg in der Ukraine habe das geändert, befindet der polnische Publizist Leszek Jażdżewski.

Plötzlich bekamen die Osteuropäer "ein Mikrofon in die Hand", erwiesen sich mit ihren Erfahrungen mit kommunistischer Diktatur, den Autokraten in Moskau und dem starken Willen zu militärischer Verteidigung samt voller Unterstützung der Regierung in Kiew als die besseren Interpreten der Geschichte. Sie wussten besser Bescheid, was der russische Präsident vorhatte, wurden gehört – "erstmals seit 1989".

Deutschland und Frankreich, die dominierenden Mächte in der EU, hätten die Lage völlig falsch eingeschätzt, ergänzte Krastev. Sie wollten nicht glauben, dass der Krieg beginnt, der nun die seit 1945 gefundene Grundordnung – Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – bedrohe. Diese sicherheitspolitische Differenz könnte nun nachhaltig die politische Architektur in der EU verändern – je nachdem, wie der Krieg ausgehe. "Im Westen fürchtet man den Nuklearkrieg. In Polen, im Baltikum fürchtet man die russische Okkupation."

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Ein Schlüsselland in diesem geopolitischen Aufweckprozess für die EU werde Polen sein, das durch die Hilfe der USA bald über die stärkste Armee in der Gemeinschaft verfügen werde, rechnete Katarzyna Pisarska vor. Eine wichtige Frage in der EU werde sein: Ist man bereit, für Demokratie und Freiheit in den Krieg zu ziehen?

Die Wahlen im Herbst in Polen werden zeigen, ob das Land unter der PiS-Regierung einen nationalistischen Kurs fortsetzt; oder ob es bei einem Sieg der Opposition wieder zu einer Hinwendung zur EU kommt. (Thomas Mayer aus Alpbach, 30.8.2023)