Die Drohung war deutlich: Russlands langer Arm reiche weit, warnte der Diplomat aus Moskau. Man könne "jeden" erwischen, und zwar "überall" – auch Diplomaten anderer Länder. Der Mann, gegen den sich die Worte richteten, ist ein Amtskollege aus Litauen. In einer Sitzung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), einer Organisation, die den Frieden zum Ziel hat, hatte der Litauer Russlands Krieg kritisiert – und so den Zorn seines russischen Gegenübers auf sich gezogen. Am Ende drohte der Russe seinem Diplomatenkollegen, ihn in Russland vor Gericht zu stellen. Auf kritische Worte zum Krieg stehen dort bis zu 15 Jahre Haft. Das führte sogar zu einer Rüge durch das österreichische Außenministerium. Man habe "unmissverständlich klargestellt, dass Drohungen jeglicher Art inakzeptabel sind", heißt es aus dem Außenministerium.

OSZE Sitzungssaal
OSCE, Spionage, Moskau, Russland Collage: derStandard/Friesenbichler Fotos: Imago, Getty Images (2)
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Der verbale Ausbruch ist nur einer von vielen Konflikten, die gerade die weltweit größte regionale Sicherheitsorganisation erschüttern. Denn seit das OSZE-Gründungsmitglied Russland im Februar 2022 das OSZE-Mitglied Ukraine überfallen hat, ist bei der Organisation nichts mehr, wie es einmal war. Der Krieg hat die Friedensorganisation eingeholt. Der ukrainische OSZE-Botschafter Jewhenij Zymbaljuk spricht von einer "existenziellen Krise, die von Russland herbeigeführt wurde". Die gesamte Organisation droht zu zerbrechen.

Angriffskrieg unter Friedenshütern

Gegründet wurde die OSZE in den 1970er-Jahren, mitten im Kalten Krieg, damals hieß sie noch Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, ins Leben gerufen wurde sie auf Drängen des Warschauer Pakts. Lange Zeit war es das einzige Forum, in dem Sowjets und der Westen einigermaßen konstruktiv miteinander sprachen. Heute hat die OSZE 57 Mitgliedsstaaten: sämtliche EU-Mitglieder, dazu Russland und alle anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, außerdem die USA und Kanada. Ihre Mission: "Konflikten vorzubeugen" und "Krisen zu meistern". Aber was heißt das schon, wenn ein Mitgliedsstaat einen brutalen Angriffskrieg gegen ein anderes Mitglied vom Zaun gebrochen hat?

Die OSZE hat ihren Hauptsitz in der Wiener Hofburg. Der Großteil der mehr als 3.500 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aber ist in Südosteuropa, Osteuropa, im Südkaukasus und in Zentralasien tätig. Sie bilden Beamte fort, sind als Wahlbeobachter im Einsatz oder unterstützen Friedensverhandlungen. Seit Russland 2014 die Krim besetzt und den Konflikt im Osten der Ukraine angeheizt hatte, waren auch in der Ukraine zeitweise mehr als 1.000 OSZE-Beobachter eingesetzt. Sie überwachten die Einhaltung von Waffenstillständen, organisierten den Austausch von Gefangenen und halfen Zivilisten, die Front – etwa für Besuche von Verwandten – unbeschadet zu überqueren. 2022 hatte die Mission ein jähes Ende. Das Mandat lief wenige Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine aus. Denn die Arbeit der OSZE fußt auf Konsens – und ebendiesen verweigerte Russland und blockierte damit eine Verlängerung der Mission. Auch die von der OSZE in den Jahren zuvor angestrengten Bemühungen um einen Waffenstillstand in der Ostukraine – die sogenannten Minsker Abkommen – scheiterten somit spektakulär.

Vetos und Angst vor Spionage

Russlands Diplomaten haben seither etliche Entscheidungen der OSZE mit ihrem Veto blockiert, so auch die Abstimmung darüber, wer die Organisation 2024 führt. Traditionell wird die OSZE jedes Jahr von einem anderen Mitgliedsstaat geleitet. 2022 war es Polen, dieses Jahr ist es Nordmazedonien. Wie es aber weitergeht, ist unklar. Estland hat sich um den Vorsitz für 2024 beworben – doch Russland hat die Zustimmung verweigert. Damit nicht genug, Moskau hat auch seine Zahlungen an die Organisation weitgehend eingestellt. Die Ausstände gehen nach Recherchen in die Millionen. Auf Anfrage wollte sich Russlands OSZE-Delegation dazu nicht äußern.

Indes wächst bei einigen OSZE-Mitgliedern die Angst vor einer Unterwanderung durch russische Agenten und Diplomaten. Nach Erkenntnissen westlicher Nachrichtendienste nutzt Russland internationale Organisationen immer wieder, um seinen Geheimdienstmitarbeitern Legenden zu verschaffen. Offiziell gehören die Männer und Frauen zur russischen Delegation oder arbeiten gar für die internationalen Organisationen selbst, in Wirklichkeit sind sie Spione. Seit Beginn des Ukrainekriegs wurden europaweit hunderte russische Geheimdienstmitarbeiter ausgewiesen, die offiziell oft als Diplomaten an den Botschaften akkreditiert waren. Erst vergangenen Februar wies Österreich vier russische Diplomaten aus, zwei davon sollen Delegierte bei den ebenfalls in Wien ansässigen Vereinten Nationen gewesen sein.

OSCE, Spionage, Moskau, Russland Collage: derStandard/Friesenbichler Fotos: Getty Images (4), Imago
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Russlands Mitarbeiter bei der OSZE blieben bislang unbehelligt. Dabei haben die Nachrichtendienste einiger Mitgliedsländer längst verdächtiges Personal ausgemacht: So arbeitete ausgerechnet die Frau des russischen Vizeaußenministers bis vor kurzem für die OSZE. Eine mysteriöse Dolmetscherin, die angeblich auch schon auf Donald Trump angesetzt worden war, ist dort noch immer tätig, ebenso wie ein Mann, den mehrere europäische Geheimdienstler und Diplomaten nach STANDARD-Informationen längst als mutmaßlichen Agenten identifiziert haben.

Ukraine fordert Suspendierung Russlands

Wird die OSZE also zum Opfer des Ukrainekriegs? Einige Mitgliedsstaaten warnen bereits vor einem nahenden Ende der Organisation. Die Regierung von Wolodymyr Selenskyj hat den vorübergehenden Ausschluss Russlands gefordert. Schon einmal wurde die Mitgliedschaft eines Mitglieds für mehrere Jahre ausgesetzt. Damals, im Jahr 1992, traf es die Bundesrepublik Jugoslawien.

In der Ukraine, sagen Kritiker, war die OSZE-Mission von Beginn an gehandicapt. Während die Beobachter zu Beginn 2014 noch dokumentierten, aus welcher Richtung schwere Geschoße heranflogen, durften sie nach einer Intervention Russlands nur noch darüber Buch führen, wo die Raketen und Granaten eingeschlagen waren. Wer sie mutmaßlich abgeschossen hatte, wurde damit Interpretationssache – und Futter für Propagandisten.

Während des Überfalls von Putins Truppen auf die Ukraine beschlagnahmten die Behörden mehr als 70 Fahrzeuge der OSZE – weiß lackiert, mit blauer Aufschrift, im Wert von fast drei Millionen Euro. Die OSZE hat monatelang versucht, eine Rückgabe über die Türkei zu organisieren, mindestens acht sogenannte Verbalnoten wurden verschickt. Etliche Male trafen sich OSZE-Mitarbeiter deswegen mit russischen Diplomaten – vergeblich.

"Schauprozesse" gegen OSZE-Mitarbeiter

In einem Brief an die OSZE, der "Spiegel", ZDF und STANDARD vorliegt, erklärten Diplomaten aus Moskau im Jänner 2023, dass die Fahrzeuge "ins Gebiet der Republik Donezk und der Republik Luhansk" gebracht wurden – in illegal besetztes ukrainisches Gebiet also. Dies sei keine Überraschung, erklärte der ukrainische OSZE-Botschafter Jewhenij Zymbaljuk. "Wir rufen alle Teilnehmerstaaten auf, sich geschlossen gegen die Bemühungen Russlands zu stellen, die darauf abzielen, unsere Organisation zu ruinieren."

Russland behauptet indes, die Fahrzeuge seien als "Beweise" für Strafverfahren gegen mehrere OSZE-Mitarbeiter beschlagnahmt worden. Russland wirft den Ukrainern vor, bei der "Lenkung des Feuers" auf Donezk und Luhansk beteiligt gewesen zu sein. Beobachter sprechen von "Schauprozessen". Es sei "ungeheuerlich", dass Russland drei Mitglieder einer Organisation, der das Land selbst angehört, als Geiseln gefangen halte, kritisiert der amerikanische OSZE-Botschafter Michael R. Carpenter – "insbesondere da es sich um Mitarbeiter einer Mission handelt, der Russland selbst zugestimmt hat". OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid spricht von einer "inakzeptablen und unmenschlichen Situation".

Die Übersetzerin, die Trump ablenken sollte

Unter den Diplomaten wird der Ton indes rauer, das Misstrauen wächst. Bei einer Sitzung des Ständigen Ausschusses der OSZE – einer Institution, in der sich Abgesandte der Mitgliedsländer regelmäßig austauschen – ergriff ein litauischer Entsandter das Wort und kritisierte, dass das Wiener Büro der Parlamentarischen Versammlung der OSZE ausgerechnet von einer verdächtigen Russin geleitet werde. Für mehrere OSZE-Mitglieder, darunter Polen und Lettland, ist klar: Es handle sich um den Versuch der Unterwanderung. Die Russin habe durch ihren Posten Zugang zu allerlei vertraulichen Dokumenten. Sie sei, so die Kritik, eine neue Anna Chapman – eine Anspielung auf jene russische Spionin, die 2010 in den USA festgenommen wurde und später im Rahmen eines Agentenaustauschs auf dem Flughafen Wien freikam.

Lawrow und Putin
Eine Dolmetscherin, die früher für den russischen Außenminister Sergej Lawrow (links) und Präsident Wladimir Putin (rechts) tätig war, arbeitet nun bei der OSZE
IMAGO/Alexander Ryumin

Vor ihrer Tätigkeit hat die Russin, die auf eine Anfrage nicht reagierte, laut Medienberichten für das russische Außenministerium gearbeitet. Regelmäßig reiste sie mit Außenminister Sergej Lawrow oder gar Präsident Wladimir Putin durch die Welt. 2019 war sie Putins persönliche Übersetzerin, als dieser beim G20-Gipfel im japanischen Osaka Donald Trump traf. Die attraktive Frau, von der im Netz auffällig viele Fotos in Unterwäsche kursieren, sei "specifically chosen" worden, um den US-Präsidenten – dessen Hang zu jungen Frauen weltweit bekannt ist – abzulenken, mutmaßte Russland-Expertin Fiona Hill, die Trump in Russland-Fragen beraten hat.

Der Generalsekretär der OSZE-Versammlung, der Italiener Roberto Montella, wies die Vorwürfe der litauischen Delegation zurück und verwies darauf, dass die ehemalige Übersetzerin bereits "vor der russischen Aggression" eingestellt worden sei. Angeheuert wurde die Frau 2021, sieben Jahre nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim. Mittlerweile hat OSZE-Mitglied Polen die Frau sowie eine weitere russische OSZE-Mitarbeiterin zu Personae non gratae erklärt – beide würden eine Gefahr für die Sicherheit Polens darstellen.

Der "Colonel"

Russische Diplomaten in der OSZE seien ein klares Sicherheitsrisiko, sagt US-Botschafter Carpenter. "Sie repräsentieren einen sehr aggressiven Staat, der Krieg führt und gegen jeden Grundsatz eines auf Regeln basierenden internationalen Systems verstößt." Einen weiteren Russen, der für die OSZE in Wien tätig ist, halten europäische Dienste und Diplomaten für einen Spion. Es sei davon auszugehen, dass es sich um einen Mitarbeiter des russischen Auslandsgeheimdiensts SWR handle. Auf Anfrage äußert sich der Mann, dem Kollegen den Spitznamen "Colonel", also Oberst, gegeben haben, nicht zu den Vorwürfen. Die OSZE wollte sich nicht zu der Personalie äußern.

Die Schmallippigkeit ist mittlerweile symptomatisch. Russland ist und bleibt OSZE-Mitglied, auch wenn es Beiträge nicht zahlt. OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid verweist lediglich darauf, dass nur sehr wenige Russen für die OSZE arbeiten. Sie seien wie alle Bediensteten angehalten, "unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit allein die Interessen der OSZE und nicht die ihrer Teilnehmerstaaten zu vertreten".

Schallenberg und Helga Schmid
Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) mit OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid diese Woche in Alpbach.
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Während die Zentrale in Wien also auffällig zurückhaltend ist, wird der Konflikt unter den Mitgliedsstaaten längst offen ausgetragen. Als sich Außenminister aller OSZE-Staaten im Dezember im polnischen Łódź treffen wollten, verweigerte die polnische Regierung dem russischen Außenminister Lawrow die Einreise, er wurde stattdessen durch seinen ständigen Vertreter bei der OSZE vertreten. Eine Abschlusserklärung gab es nicht, darauf konnten sich die Mitglieder nicht einigen. "Der Grund ist bekannt", erklärte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba – und verwies auf den russischen Angriffskrieg. "Mit Blick auf Russland wurde alles versucht: zu gefallen, zu beschwichtigen, nett zu sein, neutral zu sein, sich zu engagieren, die Dinge nicht beim Namen zu nennen. Das Ergebnis: Es wäre besser für die OSZE, ohne Russland weiterzumachen."

In der Ukraine ist dies längst der Fall: Weil Russland die Zustimmung zu einer Verlängerung des Mandats verweigert hat, gibt es zwar keine offizielle OSZE-Mission mehr, dafür aber ein "Support Programme for Ukraine". Mehrere Dutzend OSZE-Mitarbeiter sind vor Ort, finanziert werden sie aus freiwilligen Spenden von 30 Mitgliedsstaaten, darunter Österreich.

Proteste gegen Österreich

In diese Scharmützel hineingezogen wird zusehends auch das Gastgeberland Österreich: Erstmals deutlich sichtbar wurden die Konfliktlinien innerhalb der OSZE, als bekannt wurde, dass Russland im Februar 2023 gleich sechs Delegierte nach Wien schicken wollte, die von der EU beziehungsweise den USA sanktioniert sind. Darunter der Putin-Vertraute Pjotr Tolstoi, ein Nachfahre von Leo Tolstoi – berüchtigt unter anderem wegen seines Aufrufs, die Ukraine "ins 18. Jahrhundert zurückzubomben".

Mehr als achtzig Delegierte aus zwanzig Ländern forderten Österreich damals auf, keine Visa auszustellen. Österreichs Außenministerium erklärte hingegen, aufgrund des sogenannten Amtssitzabkommens allen Delegationen die Einreise ermöglichen zu müssen. Allerdings sagten erfahrene Diplomaten, dass es durchaus Wege gegeben hätte, den Eklat zu vermeiden – etwa indem Österreich Russland aufgefordert hätte, andere Delegierte zu schicken. Doch die Regierung in Wien will es sich weder mit Russland noch mit der OSZE verscherzen. Einerseits bringt die internationale Organisation Prestige und Arbeitsplätze nach Wien, andererseits waren die Beziehungen zwischen Wien und Moskau bis zur Invasion der Ukraine exzellent. Auch deshalb hieß es dann: grünes Licht für die Einreise.

Etliche Delegierte reagierten auf ihre Weise: Sie erschienen in Blau und Gelb – den ukrainischen Nationalfarben – in der Hofburg. Als die russische Delegation das Wort ergriff, verließen einige demonstrativ den Raum – andere hissten demonstrativ eine ukrainische Flagge.

Konfrontiert mit den Vorwürfen anderer Mitgliedsstaaten, richtet die russische Delegation STANDARD, "Spiegel" und ZDF lediglich aus, man solle sich nicht von "mittelmäßigen, untalentierten Gesprächspartnern in die Irre führen lassen und auf deren Niveau absinken". (Kate Manchester, Frederik Obermaier, Fabian Schmid, Márta Orosz (ZDF), Wolf Wiedmann-Schmidt und Christoph Schult (beide "Spiegel"), 1.9.2023)