In diesen Tagen denke ich sehr oft an meine Großeltern", sagt Yael. Vor jedem Gutenachtkuss habe ihr die Großmutter diesen einen Satz eingebläut: "Geh nur ja nicht weg aus Israel." Yaels Oma hatte als junge Frau die Gräuel des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau überlebt, ihre Familie war im Holocaust ermordet worden. Israel war der sichere Hafen – der einzige in der ganzen Welt.

Nun bricht Yael ihr Versprechen, und es ist ausgerechnet Österreich, das sie zum neuen Lebensmittelpunkt auserkoren hat. Die 45-jährige Ingenieurin ist eine von vielen Tausenden Israelis, die wegen der politischen Lage das Land verlassen wollen. Von ihren Vorfahren hat sie die ungarische Staatsbürgerschaft geerbt, sodass sie sich ohne Arbeitsvisum in der EU niederlassen kann.

Seit Monaten wird in Israel gegen die Regierung und die Einschränkung der Justiz demonstriert. Nicht alle aber teilen die Hoffnung, dass ihr Land den eingeschlagenen Weg so rasch wieder verlässt.
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"Ich bin überhaupt nicht stolz darauf", sagt Yael auf die Frage, mit welchen Gefühlen sie das Land verlässt. "Es fühlt sich wie eine Niederlage an. Wie eine schmerzvolle Trennung, die sich aber nicht vermeiden lässt."

Laut einer Umfrage wollen 28 Prozent der Israelis das Land verlassen, weil die jüngsten politischen Entwicklungen ihnen Angst machen. Die Regierung unter Benjamin Netanjahu hat ihr Programm zur Entmachtung der Justiz zwar erst zum Teil umgesetzt. Yael, die in Rishon LeZion nahe Tel Aviv lebt, sieht das Land aber ganz unabhängig von der aktuellen Regierung in einer fundamentalen Krise. Als Aktivistin für Menschenrechte habe sie lange Zeit gedacht, die Politik in diesem Land prägen zu können. "Jetzt weiß ich, die Richtung, die Israel eingeschlagen hat, wird sich nicht mehr ändern. Rassismus ist längst Mainstream geworden."

Auch für den Jerusalemer Gil Sagi ist die Justizreform zwar Auslöser, aber nicht der einzige Grund, den Glauben an das Land zu verlieren.

"Wir sind in einer wirklich schlechten Lage hier, alles wird immer weniger liberal, alles wird religiöser", sagt der 60-Jährige. "Heute fahren am Schabbat keine Züge, okay. In ein paar Jahren aber wird man mir vielleicht verbieten, samstags mit dem Auto zu fahren?"

Schwere Entscheidung

Sagi ist nicht einer jener säkularen Israelis, für die die Welt der Glaubenspraxis ein fremder Kontinent ist. Er war selbst die längste Zeit seines Lebens religiös. Vor 15 Jahren trennte er sich von seiner ersten Frau und "kehrte zum Fragen zurück" – so nennt man es im Hebräischen, wenn man der jüdischen Religion den Rücken kehrt.

Sagis Kinder leben weiterhin religiös. Sie und die zehn Enkelkinder in Israel zurückzulassen falle ihm "sehr, sehr schwer", sagt er. Trotzdem spüre er, dass es nicht mehr anders gehe. Es ist ein relativ junges Gefühl.

Sagi lebt mit seiner Partnerin in einer schönen, ruhigen Ecke Jerusalems, am Herzlberg. "Wir wollten hier alt werden", sagt der 60-Jährige – noch vor einem Jahr wäre alles andere unvorstellbar gewesen. Netanjahus aktuelle rechts-religiöse Regierung hat ein diffuses Gefühl auf den Punkt gebracht. "Es ist einfach unmöglich geworden, hierzubleiben." Sagi will nach Deutschland auswandern.

Wohin es in Deutschland gehen wird, weiß Sagi noch nicht. Familiäre Wurzeln hat er dort nicht, seine Vorfahren stammen aus Ungarn, Polen und Litauen. Sie wanderten schon in den 1920er-Jahren nach Palästina* aus – "zum Glück, denn das hat ihnen das Leben gerettet".

Neubeginn in der Fremde

In Israel schafften sie den Aufstieg. Sagi ist Maschinenbauingenieur, rechnet aber damit, in Deutschland wieder klein anfangen zu müssen. "In meinem Alter ist es nicht ganz leicht, eine Stelle zu finden."

Was die politische Lage in Deutschland betrifft, macht sich Sagi keine Illusionen. "Natürlich habe ich Angst, von einem Rechtsruck in den nächsten zu flüchten", sagt er. "Meine Hoffnung überwiegt, dass die Deutschen es nicht so weit kommen lassen, dass die AfD die Macht übernimmt", sagt er. "Sie haben doch aus ihrer Geschichte gelernt."

Auch Yael befürchtet, dass sie mit den politischen Verhältnissen in Österreich Probleme haben könnte. Sie freut sich aber auf die niedrigeren Lebenshaltungskosten, das gute Öffi-Netz in Wien, das kühlere Wetter. Als Ingenieurin mit viel Erfahrung im IT-Bereich muss sie sich trotz mangelnder Deutschkenntnisse auch keine Sorgen machen, schnell einen Arbeitsplatz in der neuen Heimat zu finden.

"Politisch geht es doch überall in eine negative Richtung", meint sie. Und: "Aber immerhin wird mir in Wien das Verzweifeln an den Zuständen ein bisschen leichter gemacht." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 1.9.2023)