Sie habe die Arbeit mit Menschen immer genossen und ihre Zukunft daher eigentlich in der Gastronomie gesehen, erinnert sich Olha Jachimowitsch an die Zeit vor 2014. Damals, in einem anderen Leben, bevor die Kämpfe in ihrer Heimatregion Donbass ausbrachen, habe sie ein kleines Café betreiben wollen. Doch wie für die meisten hier, im Osten der Ukraine, sei ihr Leben anders verlaufen, erzählt die 35-Jährige. Sie geht durch einen Mischwald in der Region Kiew, vorbei an friedlichen Sommerhäuschen und Obstbäumen. Schilder warnen vor Minen.

Minensucherinnen in einem Wald bei Kiew
Ein Team der amerikanisch-britischen NGO Halo Trust bei der Arbeit in einem Waldstück bei Kiew.
Olha Ivashchenko

"Ich wollte auch einen Beitrag leisten", sagt Jachimowitsch. Die braunen Haare trägt sie unter der Baseballcap zum Zopf gebunden, an der himmelblauen Schutzweste ist ein Funkgerät befestigt. Vor sechs Jahren entschied sie sich für eine Ausbildung zur Minenräumerin. Mittlerweile arbeitet sie als Supervisorin bei der britisch-amerikanischen NGO Halo Trust, die sich weltweit für die Räumung von Sprengkörpern einsetzt. "Der Job war sinnvoll und bot gleichzeitig die Chance auf ein gutes Einkommen."

Gefährliche Arbeit

Kurz nachdem die Organisation ihr erstes Büro in Jachimowitschs Heimatort Kramatorsk eröffnet hatte, taten der Ehemann und die Schwester es ihr gleich. Der Mann kämpft nun an der Front, die Frauen helfen in den befreiten Gebieten – fern des Donbass, von wo sie mit ihren Kindern fliehen mussten.

Dass die Felder seit eineinhalb Jahren überwuchert würden, erschwere die Arbeit mit den Metalldetektoren, erklärt Olha Jachimowitsch. "Immer, wenn wir ein Objekt gefunden haben, gilt der Umkreis von 25 Metern ebenfalls als potenziell vermint."

Sie zeigt auf Holzpflöcke zwischen den Bäumen abseits des Weges, den man nicht verlassen soll: Stellen, an denen ihr Team in den vergangenen Monaten beinahe hundert Blindgänger und Metallteile gefunden hat – vor allem Rückstände von Streumunition. In einer Grube werden die Objekte gesammelt und später von Katastrophenschutz und Armee kontrolliert gesprengt. "Wir räumen die Gegend, so gut wir können", sagt sie. Halo Trust wartet noch immer auf die staatliche Erlaubnis, die Objekte auch selbst zu neutralisieren.

100 Kilometer Front vermint

Laut Human Rights Watch setzen beide Seiten in diesem Krieg Landminen ein, die russischen Streitkräfte seit dem 24. Februar 2022 zudem mindestens 13 verschiedene Antipersonenminen. Dass sie mittlerweile große Abschnitte der rund tausend Kilometer langen Frontlinie vermint haben, ist laut der ukrainischen Armee neben ihrer eigenen Luftunterlegenheit einer der Hauptgründe für den schleppenden Verlauf der Gegenoffensive.

Werden Orte zurückerobert, müssen die Minen und Blindgänger geräumt werden – eine Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte. Mehr als dreißig Prozent des Landes gelten heute, neun Jahre nach dem Ausbruch der Kämpfe in der Ostukraine, als vermint. Die Ortschaft Lukjaniwka etwa, in deren Nähe Jachimowitsch gerade unterwegs ist, wurde gleich zu Beginn der Invasion besetzt, doch schon nach rund einem Monat von der ukrainischen Armee befreit. Die Kampfhandlungen hätten in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum stattgefunden, sagt Jachimowitsch. Weil sich die Front mittlerweile weit weg befinde, komme man mit den Aufräumarbeiten schnell voran.

Minenräumerin Olha Jachimowitsch
Olha Jachimowitsch (35) arbeitet sie als Supervisorin bei der britisch-amerikanischen NGO Halo Trust, die sich weltweit für die Räumung von Sprengkörpern einsetzt.
Olha Ivashchenko

Seit Beginn der russischen Invasion wurden laut Halo Trust bei 550 Minenunfällen mindestens 855 Zivilisten verletzt oder gar getötet, darunter immer wieder Landwirte. Dort, wo noch gekämpft wird, könne mit der Räumung noch gar nicht begonnen werden, erklärt Jachimowitsch. Während sich Halo Trust in seinen Einsatzgebieten mit den lokalen Behörden abspricht, machen sich andernorts Zivilisten ans Werk.

Vom Waldarbeiter zum Minensucher

An einem heißen Sommertag karrt Petro Pilipaka – er trägt T-Shirt, kurze Hose und Plastiksandalen – mit seinem Traktor ein Fragment einer Streumunitionsrakete, als handle es sich um einen Baumstamm. Im Zentrum der Ortschaft Zirkuni im Oblast Charkiw, der von der ukrainischen Armee im vergangenen Jahr größtenteils befreit wurde, lädt er die Fracht neben verrosteten Autos mit den russischen "Z"-Symbolen ab. Noch immer stehen hier gepanzerte Fahrzeuge, auf denen – manchmal mit Rechtschreibfehlern – Botschaften auf Russisch geschrieben sind, "nach Birlin" etwa.

Man kenne ihn in der Gegend bereits, sagt der 51-Jährige, der vor dem Krieg und der russischen Besatzung sein Geld als Waldarbeiter verdiente. "Manchmal rufen Leute an und fragen, ob ich vorbeikommen kann, um Teile von Raketen einzusammeln." Zunächst hätten ihn die Soldaten noch für verrückt erklärt, mittlerweile ließen sie ihn einfach machen. Auch die Wiesen und Felder hat Pilipaka selbst "aufgeräumt". "Ich konnte mit dem Kartoffelanbau nicht eineinhalb Jahre warten", sagt er, "es dauert einfach zu lange."

Pilipaka lebt im Nachbarort von Zirkuni, das auf Google auch jetzt, nach der Befreiung, noch Ruski Tischki heißt. Seine Straße ist nach dem russischen Schriftsteller Alexander Puschkin benannt. Siedlungs- und Straßennamen würden bald geändert, hofft er – wichtiger sei aber, dass die Ortschaft bald wieder sicher gemacht werde, damit die Bewohner zurückkommen könnten. Vor dem Krieg und der russischen Besatzung lebten knapp 2000 Menschen in der Siedlung, geblieben ist nur ein Bruchteil. Er könne sie fast alle beim Namen nennen, sagt Pilipaka.

Er öffnet das Tor zu seinem Garten, zeigt auf sechs weitere Ladungsteile von Streumunitionsraketen, wie Ziergegenstände neben dem mit Steinplatten ausgelegten Weg zum Haus aufgestellt. "Und, gefallen euch meine Blumen?", scherzt Pilipaka. Diese hier müsse man immerhin nicht gießen. Trotz der Zeit unter russischer Besatzung habe er den Humor nicht verloren, sagt er. sonst sei das alles schließlich nicht auszuhalten: die Nachbarn, die getötet wurden; die Familie, die geflohen ist; die beiden Söhne, die an der Front kämpfen; die Zerstörung überall im Land.

Planmäßiges Vorgehen

Im Gemeindehaus von Zyrkuny zeigt Iwan Jakowtschik, Kommandant des Entminungstrupps in der Region, auf einer Landkarte, welche Gegenden als sicher gelten. Zyrkuny ist die erste Ortschaft im ehemals besetzten Teil der Oblast Charkiw, die entmint wurde. "Jetzt haben wir begonnen, die Wälder und angrenzenden Gebiete zu räumen, in denen die Russen ihre Stellungen hatten."

Allein dort habe der Entminungstrupp mehr als 1500 Objekte neutralisiert – wieder vor allem Streumunition. Zwei Männer aus seinem Team seien dabei ums Leben gekommen, ein weiterer verletzt worden, sagt der 39-Jährige.

Jakowtschik hält seinen Pkw vor einer Waldböschung an: Hier befindet sich eine Stellung der Nationalgarde mit Soldaten, die bis vor kurzem an der Front im Osten und im Süden gekämpft haben und die nun für einige Wochen wieder zu Kräften kommen sollen.

Iwan Jakowtschik vor einer Landkarte
Iwan Jakowtschik, Kommandant eines Entminungstrupps, zeigt auf einer Landkarte, welche Gegenden als sicher gelten.
Olha Ivashchenko

In der Nähe würden täglich eingesammelte Minen und Blindgänger gesprengt, erklärt Jakowtschik, während über Funk gerade die Sekunden heruntergezählt werden. Die einige hundert Meter entfernte Detonation hinterlässt einen mehrere Meter tiefen Krater in der Erde, einen von vielen in der Gegend.

Debatte um Neutralität

Gerade wenn es um die Minenräumung geht, richtet sich der Blick immer wieder auf die neutralen Länder: Sie liefern keine Waffen, könnten aber dennoch einen Beitrag leisten. Österreich kündigte im Mai Finanzhilfe in Form von zwei Millionen Euro an den International Trust Fund (ITF) an. Das ist eine renommierte Hilfsorganisation für Entminung und Räumung explosiver Kriegsrückstände mit Sitz in Ljubljana. Das österreichische Außenministerium teilte dem STANDARD mit, dass die Zahlungen schrittweise erfolgen. Auch die Schweiz will finanzielle Mittel und die Lieferung von Raupenfahrzeugen gewähren. Doch das Zögern der beiden Länder und die über das Thema humanitäre Minenräumung aufkeimende Debatte über die Neutralität stoßen in der Ukraine auf Unverständnis.

Die lokalen Organisationen, der Katastrophenschutz und die Armee stehen nicht nur vor der Herausforderung, dass das Land mittlerweile das am stärksten verminte der Welt ist und die Angriffe aus der Luft nicht aufhören. Viele Männer kämpfen mittlerweile an der Front, es fehle also auch an Personal für die Minenräumung, sagt Jakowtschik. "Ich hätte gerne mindestens fünf Prozent Frauen im Team", sagt er, "jetzt ist es vielleicht ein Prozent."

Bei Halo Trust sind knapp dreißig Prozent der derzeit rund 800 Tätigen weiblich, bis Jahresende sollen es noch mehr werden. Mittlerweile richten sich die Ausschreibungen ausdrücklich an Frauen; die Arbeitsbedingungen, das Gehalt und die Offenheit machen internationale Organisationen zu attraktiven Arbeitgebern – attraktiver als Armee und Katastrophenschutz. "Wir wissen, dass wir am Anfang stehen", sagt Olha Jachimowitsch während des Besuchs ihres – größtenteils weiblichen – Teams im Wald. Gemeinsam ist den meisten Frauen hier, dass sie das Wohl ihrer Kinder als Hauptmotivation für ihre Arbeit nennen.

Die Leute nicht vergessen

Aus einem Garten vor einer Datscha winkt eine Pensionistin. Allein schon die Anwesenheit ihres Teams, die kurzen Gespräche, das Zuhören seien für diese Menschen immens wichtig, sagt Jachimowitsch. Nach dem Stress durch Krieg und Besatzung ein wichtiges Zeichen, dass die Menschen nicht vergessen werden.

Die Menschen wollten vor allem eines: nach vorne schauen und weiterleben. Auch sie und ihre Schwester wollen weiterleben und nach Hause zurückkehren. "Ich hoffe, dass unsere Kinder noch einen Teil ihrer Kindheit erleben dürfen", sagt sie. Jachimowitsch wünscht sich für ihren achtjährigen Sohn eine andere Realität, wenn er erwachsen ist. Eine andere als jene, die er von klein auf kennt: dass sein Leben anders verläuft als das der meisten hier. (Daniela Prugger aus Lukjaniwka und Zyrkuny, 4.9.2023)