Blechern klingt die amerikanische Hymne aus den Lautsprechern, unterlegt ist sie mit kitschigen Klängen aus einem billigen Synthesizer. Zwischen den Strophen, die via Telefon aus dem Gefängnis eingesungen wurden, ist immer wieder Donald Trump zu hören, der Passagen aus seinem Amtseid als Präsident vorträgt. Aufgenommen hat das Werk ein Gefangenenchor namens "J6 Prison Choir", wobei das J6 für den 6. Jänner steht, den Tag des Sturms auf das Kapitol, an dem die nunmehrigen Häftlinge 2021 beteiligt waren. Verteilt aber hat das Stück Trump selbst im April, unter anderen ging er bei Wahlveranstaltungen damit hausieren.

Zwei rechtsextreme Männer geben sich die Hand.
Der einstige Chef der Proud Boys, Enrique Tarrio (links), wartet noch auf sein Strafmaß. Joseph Biggs (rechts) muss 17 Jahre in Haft.
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Es war, damals, Teil eines Versuchs des Ex-Präsidenten, den in seinem Namen verübten Putschversuch als patriotischen Akt medial neu zu verpacken. Mittlerweile ist Trump selbst wegen seiner möglichen Mittäterschaft bei der Anstiftung zum Kapitol-Sturm und seiner Versuche, das Wahlergebnis 2020 umzustoßen, angeklagt. Daher muss er mit öffentlichen Äußerungen zur Causa vorsichtig sein. Und so ist womöglich auch zu erklären, dass seine Reaktion ausblieb, als am Donnerstag zwei wichtige Köpfe jener militanten rechtsextremen Vereinigung zu Haft verurteilt wurden, die in vielen Köpfen am engsten mit Trump verbunden ist: Joseph Biggs und Zachary Rehl, die für 17 und 15 Jahre in Haft müssen, waren Führungsfiguren der Proud Boys. Weitere Strafverkündungen wurden für Freitag erwartet.

Video: 17 Jahre Haft für Proud-Boys-Anführer.
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"Stand back and stand by"

Dass auch viele Durchschnittsamerikaner wissen, wer diese Gruppe ist, ist dem Gespür Joe Bidens zu verdanken. Der nämlich warf in der ersten TV-Debatte zwischen den Präsidentschaftskandidaten 2020 den Namen der Extremistengruppe in den Raum, als Moderator Chris Wallace Trump fragte, ob dieser rechtsextreme Gruppen verurteilen wolle. Trump entgegnete zunächst, er sehe "ausschließlich Gewalt von links", um dann anzuschließen: "Proud Boys, stand back and stand by" – also in etwa "haltet euch zurück und haltet euch bereit".

Wie bestellt, so geliefert: Beim Kapitol-Sturm ein paar Monate später waren die Proud Boys in großer Zahl beteiligt. Mindestens fünf Menschen verloren im Zuge der damaligen Geschehnisse ihr Leben, zahlreiche Polizisten leiden noch immer an langwierigen, oft psychologischen Folgen. Verurteilt wurden nach Zahlen der Agentur Reuters mittlerweile insgesamt mindestens 110 Menschen für ihre Beteiligung an der Gewalt, 630 haben bereits vor Gericht ihre Schuld eingestanden. Das ist etwa die Hälfte jener 1.100, die im Zusammenhang mit dem Geschehen vorläufig festgenommen worden waren. Unter jenen, die zwar bereits verurteilt sind, aber noch auf ihr genaues Strafmaß warten, ist auch der damalige Chef der Proud Boys, Enrique Tarrio.

Nahe am Bürgerkrieg

Die Proud Boys selbst sind mit den Urteilen dezimiert, ebenso manch andere Gruppe, die am 6. Jänner 2021 am Kapitol-Sturm teilgenommen hat. Das Potenzial für neue Gewalt ist nach Einschätzung vieler Fachleute damit aber nicht abgegraben. Gruppen haben sich aus der offenen Kommunikation in sozialen Netzwerken zurückgezogen. Dafür aber kommunizieren sie nun so, dass sie schwerer zu überwachen sind. Viele lose Zusammenschlüsse gibt es nach wie vor, ebenso eifriges Training "Freiwilliger" an der Waffe.

Die Political Instability Task Force der CIA kam bereits 2022 in einem Bericht zu dem Schluss, dass die USA "näher an einem Bürgerkrieg sind, als viele gerne glauben würden". Dazu kommt, dass sich das politische Klima mit dem kommenden Wahlkampf verschärfen wird. Mehrere der in den Vorwahlen kandidierenden Republikaner haben die frühere verbale Abgrenzung von Themen der Extremisten aufgegeben. Sie könnten sonst Trump nicht vor Vorwürfen beschützen, was sie aber tun müssen, um dessen Fans bei der Stange zu halten. Und auch der Ex-Präsident selbst hat sich in den Jahren der Amtslosigkeit weiter radikalisiert – und wird im Wahlkampf wenig Skrupel zeigen.

Im Falle des verurteilten Proud Boy Biggs blieb am Ende vor Gericht nur wenig Stolz übrig. Er habe "die Lügen über die Wahl geglaubt", die "Leute verbreitet hatten, die sich nichts aus mir machen", sagte er. Eine zu späte Erkenntnis – zumindest für ihn selbst. (Manuel Escher, 1.9.2023)