Einige Leser haben sich daran gestoßen, dass meine Glosse über die Auseinandersetzung zwischen Putin und Prigoschin und die Theorien über Prigoschins Ermordung mit "Russische Gewaltmenschen" übertitelt wurde. Nun, es waren in erster Linie die beiden russischen Gewaltmenschen Putin und Prigoschin gemeint – aber natürlich schwang auch die Frage mit, wie so etwas in einem europäischen Staat des 21. Jahrhunderts möglich sein kann.

Russland gehört zumindest in seinem westlichen Teil zu Europa, obwohl man darüber streiten könnte, ob das nicht ein rein geografischer Begriff ist, der mit "europäischen Werten" wie Demokratie, Rechtsstaat, Toleranz, Pluralismus, Konsensbereitschaft et cetera nur sehr wenig zu tun hat. Wer sich mit Dissidenten in den damaligen Ostblockstaaten oder Ukrainern vor einigen Jahren traf, hörte immer: "Wir wollen nach Europa."

Zum Verständnis dessen, was sich in Russland heute abspielt, ist auch die Frage zu klären, inwieweit die russische Bevölkerung dabei mitmacht, inwieweit sie die massive Gewalt gegenüber der Ukraine, aber auch gegenüber der eigenen Opposition toleriert oder vielleicht gutheißt. Die deutsche Politikwissenschafterin Florence Gaub, die für einen Strategie-Thinktank der EU in Paris arbeitet, erregte vor einigen Monaten großen Unmut, als sie in einer Talkshow sagte: "Auch wenn Russen europäisch aussehen, sie sind keine Europäer, unter anderem, weil sie einen anderen Bezug zur Gewalt haben." In einem Streitgespräch in der Zeit fügte sie hinzu, es herrsche in Russland eine andere kulturelle Einstellung zur Gewalt als in Westeuropa (z. B. sei Gewalt in der Ehe wieder straffrei), und das sei ein Grund, warum das Land zu zustimmend oder apathisch auf den Ukrainekrieg blicke.

Gesichtsmasken von Wladimir Putin und Jewgeni Prigoschin in einem St. Petersburger Souvenirshop.
AP Photo/Dmitri Lovetsky

Ist das so? Und warum? Eine Erklärung dafür lieferte der russische Sozialphilosoph Alexander Zipko in einem Interview mit dem Spiegel. Gefragt, warum er meine, dass in Russland das menschliche Leben nicht geschätzt wird, führte er aus: "Den Wert des menschlichen Lebens zu schätzen hat mit geistiger Kultur zu tun. Diese Einstellung gibt es nur in Ländern, die mit den griechischen Philosophen verbunden sind, die Renaissance und Aufklärung erlebt haben, die von Napoleon und seinem Rechtssystem beeinflusst wurden. Das alles gab es in Russland nicht. Kein einziges Land in Europa hat in seiner Geschichte so viele menschliche Leben für sinnlose Ideen geopfert. Lenins sogenannte Oktoberrevolution (mit ihren Folgen, Anm.) hat mindestens 50 Millionen Menschenleben gekostet."

Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin ergänzte in einem Interview mit mir vor einem Jahr: "Russland hat mit seiner gesamten Kultur das, was jetzt geschieht, zu verantworten. Aber Mentalität ist nicht Kultur. Wenn Russen Ukrainer töten und ihnen Gewalt antun – das ist nicht Kultur. Das ist eben die Mentalität. Und die Mentalität legt Zeugnis davon ab, dass nach 20 Jahren Putin’scher Propaganda die Menschen zu Zombies wurden – das ist dann eben diese Mentalität. Das ist nicht Erziehung durch Tolstoi, Dostojewski und Rachmaninow, sondern das ist die Erziehung durch den Fernseher."

Die Zeiten, da Europa ein gewaltbetonter Kontinent war, sind nicht so lange her. Aber grundsätzlich ist Gewalt heute geächtet. Die USA sind zweifellos eine gewaltbetonte Gesellschaft, aber es gibt demokratische Korrektivkräfte. Ob Zustimmung, Furcht oder Gleichgültigkeit: Das Verhalten der russischen Gesellschaft zu Putins Gewaltherrschaft ist ein ungeheures Problem – auch für Russland selbst. (Hans Rauscher, 2.9.2023)