Ein Rugbyball
Am Freitag startet die Rugby-WM.
IMAGO/Rémy PERRIN

Sein Brustkorb war so breit, dass er nicht einmal auf das Schwarz-Weiß-Bild passte, das an der Wand der Kapelle in Larrivière hängt. Georges Magendie war 1974 Frontmann des Racing Club de France, als er im Pulk einen Wirbelbruch erlitt und ein paar Monate später starb. Jetzt hängt sein blauweiß gestreiftes Trikot in Notre-Dame du Rugby. Die einzige diesem Sport gewidmete Kirche vereint an die 200 Leibchen verstorbener Rugbyspieler. Darunter sind auch Ausländer, etwa der Brite Billy Joe Edwards von den Wigan Warriors, dem Rugby 2003 erlegen.

Notre-Dame du Rugby
In Notre-Dame du Rugby, der einzigen diesem Sport gewidmeten Kirche, erinnern 200 Trikots an tödlich verunglückte Rugbyspieler.
Stefan Brändle

Pfarrer Gilbert Lavigne weiß, wie es passiert: "Wenn sich der Pulk der Spieler ineinander verkeilt und unter dem Druck immer mehr absenkt, kommt es gelegentlich zu Halswirbelbrüchen." Angehörige schicken dem Gottesmann später Trikots oder andere Gaben; einmal im Jahr, zu Pfingsten, hält Lavigne eine Messe für die verunglückten Rugbyspieler ab.

Die dritte Halbzeit

Die wunderschön in einer erhöhten Waldlichtung gelegene Rugby-Kapelle im Südwesten Frankreichs geht auf den Autounfall dreier lokaler Spieler auf der Rückfahrt von einem Spiel in Bordeaux im Jahr 1964 zurück. Ihr Tod erschütterte die Gascogne, wo die erste Sportart nicht Fußball ist. "Rugby ist wie das rüde Leben auf den Bauerngütern hier – man arbeitet hart, aber man lebt geeint und solidarisch", erzählt Lavigne. "Die jungen Kerle müssen sich auf dem Rasen austoben können, aber sie tun es mit Haltung und Fair Play. Und nach dem Spiel verbrüdern sich alle in der dritten Halbzeit, beim Dorffest." Dann zeigt der pensionierte Priester die Trikotsammlung hinter den Vitrinen. "Hier in der Kapelle sind die Spieler für immer zur letzten Eintracht und Kommunion vereint. Spüren Sie die Seele des Rugby?"

Von wegen Dorffest: Unten in Larrivière-Saint-Savin läuft an diesem Sonntag gerade eine "course landaise", ein Landrennen mit schwarzen Kühen, die jungen Burschen nachrennen, aber anders als im Stierkampf am Leben bleiben. "Sehen Sie, wie die Jungs Haken schlagen?", fragt Bürgermeister Christophe Larrose auf der Tribüne der Dorfarena. "Das haben sie vom Rugby. Dort muss man auch einem Gegner ausweichen, der mit 130 Kilo Lebendgewicht auf einen zustürmt. Wobei man im Rugby anders als im American Football keine Schutzpolster trägt." Was Larrose übergeht: Wer im Ballbesitz ist, darf mit Griffen unter der Schulterlinie brutal umgesägt werden. Insider nennen das eine "Karamelle".

Die 15 Spieler

Ein Sport für Rohlinge? Die Frage hört der Gemeindevorsteher nicht gern. Das Spiel gehorche festen Regeln, die um einiges komplexer seien als etwa im Fußball, stellt er klar. Die wichtigste: Wer das Ei in der Hand hält, darf es nicht nach vorn werfen. Tragen schon, aber nicht werfen. Das ändert alles.

Gilbert Lavigne
"Rugby ist wie das Leben auf den Bauerngütern", sagt Pfarrer Gilbert Lavigne. "Hart, aber geeint."
Stefan Brändle

Allein die Aufstellung der 15 Spieler ist eine Kunst. Sie tragen Namen wie Pfeiler und Hakler, Stürmer und Gedrängehalb, Innen- und Außendreiviertel. "Sie sind einerseits auf mehreren Linien platziert, wirken aber auch in die Tiefe", erzählt Freizeitspieler Larrose. "Alles sehr technisch, sehr taktisch. Egotrips wie im Fußball gibt es nicht, wichtig sind Teamwork, Zusammenhalt, kollektiver Geist."

Das gilt auch weit außerhalb des Spielfelds. "Bei uns wird niemand sich selber überlassen", weiß der Bürgermeister. "Wer privat oder sozial zu Fall kommt, wird von seinen Kumpels unterstützt. Ehrensache." Anders als im Profifußball kaut ein Rugbyspieler nicht Kaugummi, wenn die Nationalhymne abgespielt wird. Mit dem Referee spricht nur der Kapitän. "Respekt und Disziplin gehören zu vorrangigen Rugby-Werten", sagt Larrose. "Das ist kein Spiel für Brutalos, es ist vielmehr ein Spiel für Gascogner. Wir sind Franzosen, wir mögen die Konfrontation und die Leidenschaft. Deshalb mögen wir Rugby."

Das 19. Jahrhundert

Die Bahnfahrt durch die Pinienwälder der "Landes" gibt Zeit zum Überlegen, was die gar nicht so zahlreichen Rugbynationen eigentlich miteinander verbindet. Das Vereinigte Königreich, seine frühere Einflusssphäre in der südlichen Hemisphäre mit Australien, Neuseeland und Südafrika – aber dazu auch Frankreich? Sein Südwesten kam im 19. Jahrhundert wohl auch deshalb auf das Spiel mit dem Oval, weil die Gascogne bis zum Ende des Hundertjährigen Kriegs (1337–1453) teils von England dominiert war. Heute sind auch Länder wie Argentinien, Italien oder Georgien dabei – oder pazifische Nationen wie Samoa, Fidschi und Japan, das 2019 die letzte Rugby-WM austrug.

Nächster Halt ist Mont-de-Marsan, Präfekturstadt des Departements Les Landes, Herzstück der französischen Rugby-Kultur. Im Café Vincennes wird gerade eifrig darüber diskutiert, dass die französischen Bleus die australischen Wallabies in einem Vorbereitungsspiel 41:17 geputzt haben. Für die leicht zu begeisternden Gascogner bedeutet das schon fast den WM-Sieg Ende Oktober. Das glaubt jedenfalls ein Mann in schwarzen Shorts und schwarzem T-Shirt, der so schwer, aber nicht ganz so muskulös ist wie ein Rugbyspieler. Der Wirt warnt dagegen: "Rufen wir nicht zu früh den Titelgewinn aus!"

Unweit liegt das Stadion des Vereins Stade Montois, derzeit in der zweiten französischen Rugby-Liga. Am Eingang wartet Torha Balde, ihres Zeichens Pressechefin des Stadtvereins – und selbst langjährige Rugbyspielerin. Warum? "Ich mag den familiären Geist dieses Sports, gemacht aus Toleranz und Integration. Die Positionen im Rugby sind wegen der verschiedenen Aufgaben auch sehr unterschiedlich besetzt, mit Großen und Kleinen, Dünnen und Festen, Starken und Schwächeren. Alle finden ihren Platz, alle werden respektiert."

Die drei Musketiere

Erneut fällt das wichtigste Rugby-Wort: Respekt. Torha (30) fand sich früher, als sie in ihrer Freizeit tanzte, zu groß, zu schwer. Im Rugby ist sie heute Teamleaderin und reißt auch kleinere, schwächere Spielerinnen mit. "Das gibt Selbstvertrauen", sagt sie. Frankreichs Verband FFR bemühe sich, Frauenteams zu fördern. Die 14 Männervereine der ersten Profiliga "Top 14" seien seit 2023 verpflichtet, eine Frauensparte zu führen. "Wir entwickeln im Rugby einen eigenen Stil", sagt Torha, "eine eigene, feminine Identität – flüssiger, weniger draufgängerisch".

Torha Balde
Torha Balde, Pressechefin des Stadtvereins und langjährige Spielerin: "Alle werden respektiert."
Stefan Brändle

Das könnte auch daran liegen, dass Spielerinnen statistisch gesehen noch stärker als Männer unter dem Hauptübel des Rugbyspiels leiden – dem Schädel-Hirn-Trauma. Ein ernstes Thema. Torha spricht nicht gern darüber; lieber erfreut sie sich am kollektiven Erleben des Rugbyspiels. Es folge der gleichen Losung wie die Drei Musketiere, die bekanntlich auch aus der Gascogne stammen, sagt Torha: "Alle für eine, eine für alle!" (Stefan Brändle aus Larrivière-Saint-Savin, 5.9.2023)