Obdachlose Wien Gewalt Mord Polizei
Seit Juli kam es in Wien zu mehreren Angriffen gegen schlafende Obdachlose.
Heribert Corn

Fast zwei Monate nach der ersten von drei Attacken auf obdachlose Menschen in Wien gibt es keine heiße Spur zu dem oder den Tätern. Im Landeskriminalamt geht man aufgrund der ähnlichen Modi Operandi, der ähnlichen Verletzungsmuster, des Tatzeitraums und der Auswahl der Opfer von einem Zusammenhang der Attacken aus. Dass ein unbekannter Serientäter gesucht wird, wird aber offiziell nicht kommuniziert. Doch der Umstand, dass innerhalb von nur vier Wochen zwei Männer ermordet wurden und eine Frau schwer verletzt wurde, nährt die Befürchtung, dass der oder die Täter wieder zuschlagen könnten.

Nach der Auslobung von 10.000 Euro für Hinweise, die zur Klärung der Verbrechen führt, kamen zwar viele Hinweise herein, aber der entscheidende Tipp war bisher nicht dabei. Die Belohnung, die vom Verein der Freunde der Wiener Polizei in Aussicht gestellt wurde, wartet noch. In der Zwischenzeit wurde die Polizeipräsenz an öffentlichen Orten, an denen sich obdachlose Menschen aufhalten, verstärkt. Vor allem in der Nacht, denn die Angriffe wurden auf Schlafende verübt.

Aufklärungsrate hoch

Auch städtische Hilfseinrichtungen und die Helferinnen und Helfer der Caritas haben reagiert. Zusätzliche Quartiere mit mehr als 100 Übernachtungsplätzen wurden geöffnet, mehr Streetworker sind unterwegs. An obdachlose Menschen, die auf der Straße schlafen, wird appelliert, in der Nacht Gruppen zu bilden. Die Caritas verteilte Trillerpfeifen, mit denen im Notfall Alarm geschlagen werden kann.

Morde sind hierzulande im internationalen Vergleich selten, Serienmorde noch seltener. Was ist über diese Form von Verbrechen bekannt? Die Aufklärungsrate bei Tötungsdelikten ist sehr hoch, weit über 90 Prozent aller Mordfälle werden gelöst. Das gilt auch für Serienverbrechen. Ab wann von einem Serienmord die Rede ist, ist nirgends festgeschrieben. Bei der US-Sicherheitsbehörde FBI, bei der in den vergangenen Jahrzehnten auch immer wieder heimische Ermittler eine Profiler-Ausbildung absolviert haben, geht man bereits beim zweiten Mord, der einem Täter oder einer Täterin zugeordnet werden kann, von einer Serie aus.

Wienkarte mit Fundorten der angegriffenen Personen.
Wienkarte mit Fundorten der angegriffenen Personen.
APA

Der deutsche Fallanalytiker Axel Petermann gilt als einer der führenden Experten. Er sagt, eine Serientäterschaft sei anzunehmen, wenn mindestens zwei Morde im zumeist selben Milieu geschehen – wenn Ähnlichkeiten bestehen bei der Auswahl der Opfer, aber auch bei der Art der Tötung oder in der Weise, in der ein Leichnam zurückgelassen wird.

"Geeignete Opfer"

Und während die meisten Morde im familiären oder näheren Umfeld geschähen, handle es sich bei Opfern von Serientätern oft um Fremde. Denn die Opfer müssten "verfügbar, vulnerabel und leicht unter Kontrolle zu bringen" sein.

Obdachlose seien hierfür ebenso "geeignete Opfer" wie auch Prostituierte, sagt der frühere Kriminalist Petermann, der auch als Moderator von True-Crime-Serien im Fernsehen bekannt ist. Menschen, die auf der Straße leben, seien eine Randgruppe der Gesellschaft, leichter ansprechbar, möglicherweise alkoholisiert oder intoxikiert, was das Risikobewusstsein senke.

Petermann spricht von Tätern, die über eine größere Zeitspanne hinweg "ihre Fantasien im Rahmen eines inneren Skripts ausleben und sich irgendwann dazu entschließen, die Taten auch tatsächlich zu realisieren und zu schauen, ob das, was sie überlegt haben, in der Realität noch schöner ist für sie als im Kopfkino". Zwischen den Morden gebe es meist eine zeitliche Pause als "emotionale Abkühlung", nachdem ihre Bedürfnisse vorläufig gestillt worden seien.

Überwiegend männlich, aber Ausnahmen

Auch Adelheid Kastner, Primarin der Klinik für Psychiatrie an der Linzer Kepler-Universität, sagt, letztlich gehe es um "die Befriedigung eines wesentlichen Bedürfnisses". Werde dieses Bedürfnis mit der Tötung eines Menschen befriedigt, "dann ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass man diese Methode weiterführt".

Kastner Psychiaterin
Adelheid "Heidi" Kastner ist Psychiaterin, Forensikerin und Expertin im Bereich der forensischen Psychiatrie und Vorstand der Klinik für Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt am Kepler-Universitätsklinikum in Linz.
Philipp Horak

Kastner ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, sie ist zudem als Sachverständige bei Gericht tätig, sie war es unter anderem im Fall Josef Fritzl und in jenem des Fünffachmörders in Kitzbühel. Über Motive in den Wiener Fällen möchte sie nicht spekulieren. Und ganz generell sei das Profil eines Serientäters oder einer Serientäterin nicht so leicht zu erstellen. Zumindest so viel lasse sich sagen: Serienmord sei eine "überwiegend männlich besetzte Domäne" – auch wenn es immer wieder auch Serientäterinnen gebe, wie etwa Elfriede Blauensteiner, die in den 1990er-Jahren pflegebedürftige Menschen ermordete, um an deren Vermögen zu kommen. Bei männlichen Tätern komme oft eine sexuelle Komponente hinzu – aber auch die gebe es nicht immer. Andere Motive seien finanzieller Natur, Machtansprüche, Überhöhung oder Gier.

Ernst Geiger hat ebenfalls allerlei Motive erlebt. Er war in seinen 40 Jahren bei der Polizei in die Aufklärung einige der spektakulärsten Kriminalfälle des Landes involviert. Manche hat er in der Pension zu Büchern verarbeitet. In Heimweg beispielsweise behandelt er die drei Mädchenmorde von Wien-Favoriten Ende der 1980er-Jahre. Es war Geigers erster großer Fall. "Damals ging eine große Angst um", erzählt er. "Wir waren also enorm unter Druck." Es stellte sich schließlich heraus, dass der Serientäterverdacht falsch war, es gab zwei Täter, einer der Morde ist bis heute ungeklärt.

Serienmorde sehr selten

Der gebürtige Wiener Neustädter kam 1978 zur Polizei. Damals liefen gerade die Ermittlungen im Fall Harald Sassak, der mehrere Raubmorde an älteren Menschen in Wien verübt hatte. Geiger stieg später zum Vizechef des Wiener Sicherheitsbüros – damals Österreichs größte Kriminaldienststelle – auf und war zuletzt Chefermittler im Bundeskriminalamt. Er führte auch die Ermittlungen gegen den wegen elffachen Prostituiertenmordes angeklagten Jack Unterweger. "Unterweger war der manipulativste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe", sagt Geiger: "Er hat vor allem Frauen manipuliert, aber auch Behörden und Institutionen."

Kriminalist Ernst Geiger
Ernst Geiger ist pensionierter Polizeibeamter, Jurist und Buchautor.
Hans Leitner / First Look / pict

Geiger sagt, hierzulande seien Serienmorde so selten, dass kaum Lehren daraus gezogen worden seien. Anders sei dies in den USA. Diese Forschungsergebnisse könne man "durchaus auf unsere Fälle übertragen". Demnach gebe es zwei große Gruppen von Täterinnen und Tätern: die organisierten und die chaotischen. Erstere gingen kalkulierter vor, versuchten oft mit der Öffentlichkeit zu spielen und fühlten sich dieser überlegen. Die Letzteren handelten weniger nach Plan – und werde daher auch schneller gefasst. (Anna Giulia Fink, Michael Simoner, Zsolt Wilhelm, 4.9.2023)