Normalerweise freut man sich, wenn man nach jahrelanger Gefangenschaft aus einem unterirdischen Gefängnis flüchtet. In der neuen Netflix-Serie Liebes Kind von Isabel Kleefeld und Julian Pörksen ist das nicht so. Sind Lena (Kim Riedle), ihre Tochter Hannah (Naila Schuberth) und Sohn Jonathan (Sammy Schrein) zu traumatisiert? Die Serienadaption von Romy Hausmanns 2019 erschienenem Roman beginnt mit einer Flucht – erst dann kommt langsam das wahre Ausmaß des Albtraums ans Tageslicht. Regisseurin und Drehbuchautorin Isabel Kleefeld im Gespräch darüber, wie man Stoffe für Erwachsene mit Kinderschauspielern inszeniert.

Sammy Schrein als Jonathan und Naila Schuberth als Hannah auf dem Set von
Sammy Schrein als Jonathan und Naila Schuberth als Hannah auf dem Set von "Liebes Kind".
Netflix

STANDARD: Wie erklärt man Kindern einen Psychothriller?

Kleefeld: Den beiden Kindern war bewusst, dass sie in einer spannenden Serie mitspielen. Einer Geschichte, in der es um Ausnahmesituationen geht. Die Kinder wussten aber beispielsweise nicht, dass der Täter ein Psychopath ist. Für sie war es einfach nur ein Papa, der übertrieben große Angst hat, dass jemandem etwas passiert.

STANDARD: Wie entschärft man Szenen kindgerecht, in denen psychische oder physische Gewalt gezeigt wird?

Kleefeld: Zum Beispiel kontrolliert der Täter immer die Hände der Kinder. Wir haben ihnen erklärt, dass der Papa nachsieht, ob da auch wirklich nichts ist, womit man sich verletzen könnte. Außerdem hat der Papa einen übertriebenen Hygienefimmel. Papa macht das aus Angst und Liebe. Den Kindern ist dabei bewusst, dass das Verhalten von diesem Papa nicht gut ist und er es ändern muss.

STANDARD: Was hat Sie an diesem Projekt fasziniert?

Kleefeld: Ich habe den Roman bereits als Manuskript bekommen. Das habe ich in einer Nacht gelesen und daraufhin den Produzenten Tom Spieß von Constantin Film angesprochen. Dadurch haben die Verhandlungen zu den Verfilmungsrechten schon begonnen – neun Monate bevor der Roman überhaupt herauskam. Ich habe gedacht, wenn ich nicht aufhören kann zu lesen, muss es anderen doch auch so gehen. Ich war fest davon überzeugt, dass das ein Bestseller wird.

STANDARD: Wie haben Sie aus dieser Geschichte das Drehbuch gemacht?

Kleefeld: Die Geschichte ist multiperspektivisch, hat einen ausgeklügelten Plot und viele Twists. Mir war klar, dass daraus eine abgeschlossene Miniserie werden kann. Ich habe zunächst ein Konzept für sechs Folgen geschrieben, um herauszufinden, was funktioniert und was man noch dazu erfinden muss.

STANDARD: Für die Kinder gab es eigene Drehbücher.

Kleefeld: Diese Überlegungen sind im Laufe der ersten Vorbereitungen entstanden. Uns war klar, wir müssen zuerst die Kinder casten und danach die Erwachsenen, auch um eine gewisse Ähnlichkeit zu erzielen. Gute Kinderdarsteller zu finden, das hat als Prämisse alles weitere bestimmt.

STANDARD: Wie sahen diese Kinderdrehbücher aus?

Kleefeld: Ich habe das Kinderdrehbuch aus der Perspektive von Hannah und Jonathan geschrieben, wie sie ihre Welt erleben, in ihrer Logik. Die Kinder wussten auch darüber Bescheid, dass die Erwachsenen ihre eigene Geschichte in der Erwachsenenwelt haben. Im echten Leben gibt es ja auch Bereiche und Themen für Erwachsene und welche für Kinder.

Regisseurin Isabel Kleefeld mit Naila Schuberth und Sammy Schrein am Set von
Regisseurin Isabel Kleefeld mit Naila Schuberth und Sammy Schrein am Set von "Liebes Kind".
Courtesy of Netflix / Wolfgang Ennenbach

STANDARD: Gab es bei der Drehbuchentwicklung Zusammenarbeit mit Ärztinnen, Psychologinnen oder Psychiaterinnen?

Kleefeld: Wir sind mit einem Kinderpsychiater die Erwachsenendrehbücher durchgegangen, um herauszufinden, was man wie kommunizieren kann. Dann sind wir das Kinderdrehbuch mit den Eltern, der Coachin und der medienpädagogischen Fachkraft durchgegangen. Zudem war die großartige Coachin in der Vorbereitung und beim Dreh immer dabei. Die Kinderrollen sind sehr groß, nur so haben wir diese Zusammenarbeit schaffen können. Das Kinderdrehbuch ist zudem auch vom Jugendamt überprüft worden. Keine Serie der Welt ist es wert, hinterher ein traumatisiertes Kind zu haben, das psychologische Betreuung braucht.

STANDARD: Letztes Jahr gab es Vorwürfe gegen Ulrich Seidl wegen des Umgangs mit den Kinderdarstellern während den Dreharbeiten an "Sparta". Wie war das bei Ihnen am Set?

Kleefeld: Im Vorfeld haben wir uns kennengelernt und waren Eis essen und Katzen streicheln und Fußball spielen. Wir haben Zeit miteinander verbracht, auch mit den Eltern. Die Kinder waren vorab bei den Maskenproben der Erwachsenen dabei, damit sie sehen, wie Wunden und Blut geschminkt werden. Damit ihnen am Set klar ist, das ist alles nur Schein. Sie haben den Aufbau des Hauses im Studio mitverfolgt. Außerdem haben wir jede Szene, in der die Kinder vorkommen, lange vor Dreh geprobt. Von den Kolleginnen und Kollegen war eine große Bereitschaft vorhanden, das abgesprochene Wording zu verinnerlichen. Wenn die Kinder am Set waren, haben alle nur mit dem Kinderdrehbuch gearbeitet.

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STANDARD: Gab es manchmal kritische Situationen?

Kleefeld: Ich kann mich ehrlich an keine erinnern.

STANDARD: Die Ästhetik der Serie hat bei mir als Österreicher sofort Assoziationen an Kampusch und Fritzl hervorgerufen. Gab es reale Inspirationen?

Kleefeld: Ich habe natürlich über beide Fälle damals in der Presse gelesen und habe großen Respekt vor Natascha Kampusch. Ich habe aber weder das Buch gelesen noch den Film gesehen. Das Szenenbild in "Liebes Kind" orientiert sich an Romy Hausmanns Roman, dort ist alles genau beschrieben. Die Verortung des Gefängnisses haben wir jedoch verändert, auch weil wir es nicht für ganz glaubwürdig hielten, dass in Deutschland eine Hütte im Wald mit Zugangsweg 13 Jahre lang nicht entdeckt wird.

STANDARD: Für die Musik konnten Sie den zweifachen Oscar-Gewinner ("Kaltes Land", "Babel") Gustavo Santaolalla gewinnen.

Kleefeld: Christoph Becker, der Music-Supervisor von Constantin Film, hatte uns gefragt, in welche Richtung die Musik gehen soll. Bevor die Musik der Komponistinnen und Komponisten vorliegt, nutze ich als Layout häufig Musik von Gustavo Santaolalla. "Fragen wir doch einfach", hat Christoph dann gemeint. Nachdem wir ihm die übersetzten Drehbücher geschickt hatten, kam prompt die Zusage. Gustavo hat erklärt, dass er dieses Asperger-Mädchen Hannah mit so einer emotionalen Zugewandtheit gelesen hat, dass bei ihm sofort viele Ideen entstanden sind.

STANDARD: Wie kann man sich diese Zusammenarbeit vorstellen?

Kleefeld: Als wir mit dem Schnitt begonnen haben, hatte er zusammen mit seinem Kollegen Juan Luqui ("The Last of Us") aufgrund der Drehbücher bereits Themen komponiert, mit denen wir dann gearbeitet haben. Im Schnittprozess kam dann immer mehr Nachschub. Das war jedes Mal wie Weihnachten. Gustavo ist eh so zugewandt, freundlich, mit einem langen weißen Bart. Wenn wir Videocalls hatten, war das immer ein bisschen wie mit dem lieben Gott zu sprechen. Es war mit beiden eine tolle Zusammenarbeit.

STANDARD: Psychothriller gibt es ja viele, und sie sind meistens relativ ähnlich.

Kleefeld: Ich glaube, der hier ist anders.

STANDARD: Wie macht man etwas, das sich abhebt?

Kleefeld: Zum einen hat der Roman schon eine raffinierte multiperspektivische Erzählweise, die individuell aus der inneren subjektiven Sicht der einzelnen Figuren erzählt. Wir haben ein Urverbrechen, das vor Jahrzehnten stattgefunden hat, und jede der beteiligten Figuren leidet darunter. Geschichten werden so wie hier selten ausschließlich aus der Opferperspektive erzählt.

STANDARD: Am Anfang der Serie steht die Flucht.

Kleefeld: Genau. Die Geschichte beginnt mit der vermeintlichen Erlösung. (Jakob Thaller, 7.9.2023)