Mit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine intensivierte Russland auch seine Bemühungen an der medialen Front – vor allem durch Propaganda im Internet. Der niederländische Kulturwissenschafter Boris Noordenbos erklärt, wie die Onlinestrategien des Kreml funktionieren.

STANDARD: Was ist denn so neu an Russlands Propaganda?

Noordenbos: Wenn wir an Propaganda denken, haben wir meistens ein Bild vor Augen, in dem ein Staat von oben herab einer Zielgruppe, meistens im eigenen Land, Inhalte kommuniziert. Über die letzten Jahre beobachten wir aber zwei Entwicklungen in der russischen Medienstrategie, die davon abweichen. Erstens ist die russische Propagandastrategie seit etwa zehn Jahren zu einer globalen geworden, die sich teils mit der im Inland deckt, teils aber auch eigene Dimensionen annimmt. Zweitens setzt Russland dazu sehr gezielt soziale Medien ein, und zwar auf eine Art, die diese nicht nur als Verbreitungstool nutzt, sondern sehr spezifisch deren besondere Funktionsweisen und Potenziale nutzt.

Wladimir Putin setzt online nicht mehr nur auf klassische Propaganda
Wladimir Putin setzt online nicht mehr nur auf klassische Propaganda.
via REUTERS/SPUTNIK

STANDARD: Was beobachten Sie dabei genau seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine?

Noordenbos: Inhaltlich dürfte einiges bekannt sein. Da gibt es natürlich die immer verbreitete Behauptung, die Ukraine werde von Nazis regiert, und Russland würde diese Bedrohung bekämpfen, anstatt einfach ein Nachbarland zu überfallen. Gleichzeitig wird versucht, in Europa ein Gefühl der Spaltung hervorzurufen, indem man etwa die hohen Kosten des Krieges betont. Und zuletzt wird Material verbreitet, das eine Art "Kulturkrieg" beschwört und Russland zum Verteidiger traditioneller Werte erklärt – zum Beispiel durch viele Anti-LGBTIQ-Posts.

STANDARD: Das kennt man von Wladimir Putin. Was ist an der Onlinestrategie besonders?

Noordenbos: Der große Unterschied zu früher ist, dass der Staat nicht mehr als alleiniger Schöpfer propagandistischer Inhalte auftritt. Vielmehr nutzt er Social Media, um Nutzer und Nutzerinnen als Verbreiter, aber auch als Erzeuger von Propaganda einzuspannen, was ja der grundlegende Unterschied zwischen zum Beispiel dem Fernsehen und Plattformen wie Facebook, Twitter oder Tiktok ist. Man ist nicht nur Rezipient, sondern interagiert mit den Inhalten, man partizipiert an ihrer Erzeugung und Verbreitung. Das funktioniert vor allem sehr gut mit Memes, die irgendwo im Internet entstehen und in ihrer Verbreitung immer weiter modifiziert werden, sodass letztlich verschiedenste Personen beteiligt sind und der Ursprung kaum mehr definierbar ist.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Noordenbos: Es gibt ein sehr interessantes Meme, dessen Geschichte exemplarisch für viele andere ist. Es handelt sich um eine Darstellung der Jungfrau Maria in der Ästhetik orthodoxer Ikonen. Sie steht dort über einer Gruppe als orthodoxer Gläubiger gekennzeichneter Personen. Von ganz oben herab drohen fünf Bomben auf die Gläubigen zu fallen, jede davon mit Symbol markiert: ein Hakenkreuz, eine US-Flagge, eine der EU, das Emblem der Nato und ein Regenbogen. Doch man lässt uns wissen, dass die Gläubigen nichts zu befürchten haben, denn Maria spannt über sie einen Schirm in den Farben der russischen Trikolore. Russland inszeniert sich als Beschützer vor angeblichen "antirussischen" Ideologien. Dieses Meme wurde nun von verschiedenen russischen Botschaften zum Beispiel via Facebook geteilt, unter anderem der in Bangladesch.

STANDARD: Russische Botschaften entwickeln solche Memes und verbreiten sie?

Noordenbos: Solche Memes werden nicht von ein paar Leuten in einem Hinterzimmer gemacht, die gemeinsam überlegen, welches Bild sie als nächstes in die Welt setzen wollen. Sie entstehen durch die Onlineaktivität etlicher Individuen, die sie immer wieder verändern und adaptieren, dabei ältere Motive recyceln und neue hinzufügen. So zirkulieren sie auf verschiedensten Plattformen, von wo aus Akteure wie die russische Botschaft sie für ihre eigenen Kanäle übernehmen. In dem oben beschriebenen Fall konnten wir es auf einem recht prominenten Kanal finden, dem des Ultranationalisten Alexander Dugin.

Aber der Schlüsselmoment ist, wenn ein solches Meme, das als Teil einer Internetsubkultur kursiert, plötzlich vom offiziellen Kanal einer russischen Auslandsvertretung aufgegriffen wird. Aus dem inoffiziellen, nutzergenerierten Spiel wird dann sozusagen eine offizielle Botschaft des russischen Staates. Die Propaganda hat damit weniger den biederen Anstrich einer Top-down-Kommunikation, sondern markiert sich als etwas, das die Meinung von Nutzern und Nutzerinnen abbildet.

STANDARD: Und warum tut das ausgerechnet die russische Botschaft in Bangladesch?

Noordenbos: Auch andere Botschaften vor allem im Globalen Süden teilen diese und ähnliche Inhalte. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um einen Versuch, so etwas wie Verbündete in Ländern außerhalb dessen zu gewinnen, was Russland den "vereinten Westen" nennt, die zumal nicht durch eine traditionelle Blockzugehörigkeit aus Zeiten des Kalten Krieges geprägt sind. Ich denke, der Kreml möchte damit ein mögliches antikoloniales und antiwestliches Sentiment in diesen Gesellschaften schüren und verstärken und möglichst in eine prorussische gesellschaftliche Stimmung konvertieren. Man will dort den Fuß in die Tür bekommen.

STANDARD: Neben diesen Memes analysieren Sie auch angebliche "Faktenchecks", die von russischen Plattformen erstellt und verbreitet werden. Worum handelt es sich?

Noordenbos: Angebliche Faktenchecks werden in Russland sowohl im Staatsfernsehen als auch auf scheinbar nichtstaatlichen Homepages veröffentlicht und dann über Telegram-Kanäle verbreitet. Diese Art der Propaganda arbeitet Kriegsereignisse auf eine Art und Weise auf, die nicht geradeheraus den Standpunkt des Kreml reproduziert. Stattdessen erreicht sie ihre Schlussfolgerung über das Fingieren einer Open-Source-Intelligence-Recherche, wie sie zum Beispiel Organisationen wie Bellingcat praktizieren. Solche angeblichen "Faktenchecks" wurden zum Beispiel erstellt, um die Echtheit des Massakers von Butscha, bei dem russische Soldaten dutzende Zivilisten getötet haben, zu bestreiten. Mit Satellitenbildern oder Fotos, auf denen angebliche Ungereimtheiten rot eingekreist sind, suggerieren die Autoren zum Beispiel, dass die Leichen erst nach dem Abzug der Truppen aufgetaucht seien und von der ukrainischen Seite drapiert wurden.

Boris Noordenbos forscht über russische Cyber-Propaganda
Boris Noordenbos, Propaganda auf der Spur.
UVA/Bronshoff

STANDARD: Ist diese Form von Falschmeldung effektiver als die geradlinige Kommunikation?

Noordenbos: Der Umweg über die angebliche Recherche durch die detaillierte Interpretation vor Ort aufgenommenen Materials verleiht dem letztlich propagandistischen Inhalt den Anschein von Transparenz, Akkuratesse und Wahrheitsethos – all das, wofür sich der Kreml eigentlich nicht interessiert. Es ist eine Aneignung der Autorität des Faktenchecks und der Ideale des objektiven, transparenten Journalismus. Der Kreml oder auch Akteure, die sich der Sache des Kreml verschrieben haben, verstehen sehr gut, dass es im 21. Jahrhundert nicht mehr sonderlich produktiv ist, den Leuten immer wieder zu sagen, was sie zu glauben haben. Es kann autoritativer und überzeugender wirken, wenn man stattdessen an sie appelliert: Seid kritische Bürger statt nur passive Nachrichtenkonsumenten und findet gemeinsam mit uns heraus, was eigentlich vor sich geht. Es wird, wie auch mit den Memes, eine partizipative Dimension beschworen. Aber letzten Endes landen diese sogenannten Recherchen immer bei der gleichen Erzählung, die der Kreml auch offiziell vertritt.

STANDARD: Lassen sich Menschen tatsächlich auf solche Art überzeugen?

Noordenbos: Einerseits soll fingiertes Factchecking sicherlich tatsächlich überzeugend wirken. Andererseits, und ich halte das für eine zentrale Funktion solcher Kanäle, handelt es sich dabei auch um eine Strategie der Überwältigung. Man wird regelrecht überflutet mit Material, Informationen, verschiedenen Versionen eines Ereignisses, angeblichen kritischen Fragen. Nach dem Massaker von Butscha veröffentlichten diese Kanäle zum Teil dutzende lange Beiträge innerhalb weniger Tage. Das kann einen Effekt des Abstumpfens hervorrufen, indem es permanent zum Zweifeln einlädt: Wer war nun tatsächlich am Massaker in Butscha beteiligt, was hat es mit dieser Aufnahme auf sich, worauf deutet dieses Bild hin? Kann man feststellen, wann genau diese Leute getötet wurden? Wurden die Körper bewegt? Solange man diese Fragen immer wieder stellen kann, muss man sich nicht mit der offensichtlichen Realität auseinandersetzen, dass russische Truppen in Butscha Zivilisten ermordet haben. Und damit ist schon viel erreicht. (Thomas Fritz Maier, 10.9.2023)