Kurz bevor Bezirksrichter Timothy J. Kelly am Dienstag in Washington das Urteil verkündete, war von dem toughen Männlichkeitsgestus, den Enrique Tarrio früher so gern zur Schau gestellt hatte, nichts mehr zu spüren. Und auch vom Stolz des einstigen Chefs der rechtsextremen US-Miliz Proud Boys war auf der Anklagebank wenig übrig geblieben. Unter Tränen flehte der 39-Jährige um Gnade: "Nehmen Sie mir nicht meine Vierziger."

Enrique Tarrio muss wegen des Sturms auf das Kapitol 22 Jahre ins Gefängnis
Enrique Tarrio muss wegen des Sturms auf das Kapitol 22 Jahre ins Gefängnis.
AFP / EVA MARIE UZCATEGUI

Nun scheint es, als müsste der Sohn antikommunistischer Flüchtlinge aus Miamis kubanisch geprägtem Stadtteil Little Havana sogar noch seine Fünfziger hinter Gittern verbringen: 22 Jahre Haft wegen aufrührerischer Verschwörung beim Sturm auf das Kapitol durch Anhängerinnen und Anhänger von Ex-Präsident Donald Trump am 6. Jänner 2021, so lautet das Urteil – das bisher härteste gegen die Kapitol-Stürmer und ihre Helfer. Tarrio, der am Tag des Aufstands zwar nicht in Washington war, den Mob aber aus der Ferne dirigierte, sei der "ultimative Anführer" gewesen, führte das Gericht aus. Sein Anwalt kündigte Berufung an.

Diabetes-Tests gefälscht

Lange hatte sich der Mann, der mit 16 die Highschool verließ und seither wegen Diebstahls, des Handelns mit gefälschten Diabetes-Tests sowie wegen des Verbrennens einer Black-Lives-Matter-Flagge eingesessen hat, sicher fühlen dürfen. Sein Aufstieg im rechtsextremen Milieu gestaltete sich kometenhaft: Nachdem er 2018 am Rande eines Aufmarschs einen Gegendemonstranten niedergeschlagen hatte, rückte der – laut Eigenauskunft – "braune" Tarrio gemäß dem Initiationsritus in die Führungsetage der Proud Boys auf. Nebenbei vertrieb er von Miami aus Szene-T-Shirts.

Sein Weg vom Gelegenheits- zum Schwerverbrecher verlief schließlich wohl auch deshalb so nahtlos, weil er in Trump einen Bruder im Geiste an höchster Stelle wähnte. 2020, der Republikaner kämpfte da gerade um seine Wiederwahl und Tarrio war längst als medienaffiner Chef der Proud Boys etabliert, reagierte er auf Twitter freudig, als Trump seiner Truppe zurief, sich für künftige Aufgaben "bereitzuhalten".

Was Tarrio darunter verstand, wurde nach Ansicht des Gerichts wenig später deutlich: Mit "revolutionärem Eifer" habe er versucht, die friedliche Übergabe der Macht zu verhindern. Tarrios Ruf unter Gleichgesinnten war da aber ohnehin schon ruiniert: Kurz nach dem Sturm auf das Kapitol wurde bekannt, dass er sich Jahre zuvor der Polizei als Informant im Kampf gegen Drogendealer angedient hatte. (Florian Niederndorfer, 6.9.2023)