Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche finden heute in Bosnien-Herzegowina "Proteste" von Anhängern des radikalen völkischen Nationalisten und Sezessionisten Milorad Dodik statt. Dodik, der Chef der größten bosnisch-serbischen Partei SNSD und Präsident des Landesteils Republika Srpska (RS), ist ein enger Verbündeter des Kreml-Chefs Wladimir Putin. Alle paar Tage inszeniert Dodik eine staatsbedrohende Krise, um den Staat Bosnien-Herzegowina zu unterminieren und langfristig zu zerstören. Dieses Vorgehen wird auch vom Kreml unterstützt, um Instabilität auf dem Balkan zu schaffen.

Der Protest am Freitag findet – wie schon vergangene Woche – an Orten an der Linie zwischen den beiden Landesteilen RS und der Föderation statt. Die Anhänger von Dodik, die die verfassungswidrige und staatszerstörende Sezession der Republika Srpska fordern, provozieren mit dem Slogan "Die Grenze existiert" und insinuieren damit die Schaffung einer neuen Staatsgrenze zwischen der Föderation und der RS.

Auch vergangenen Freitag demonstrierten Russlandfans in Sarajevo.
Auch vergangenen Freitag demonstrierten Russland-Fans in Sarajevo.
EPA/FEHIM DEMIR

Angriffe auf Rückkehrer

Im Krieg gegen Bosnien-Herzegowina (1992–1995) versuchten völkische Nationalisten einen Teil des damals unabhängigen und völkerrechtlich anerkannten Staates Bosnien und Herzegowina zu besetzen und abzuspalten, um diesen dann an ein Großserbien anzuschließen. Diese verbrecherischen Nationalisten führten deshalb sogenannte "ethnische Säuberungen" durch – die meisten Nichtserben wurden vertrieben, in Konzentrationslager gesperrt, und viele wurden ermordet. Bis heute wollen diese völkischen Nationalisten das "ethnisch gesäuberte" Gebiet abspalten und an ein Großserbien anschließen.

In den vergangenen Wochen und Monaten kam es wieder vermehrt zu Angriffen auf muslimische Rückkehrerfamilien, die in der Republika Srpska leben. Der bosniakische Abgeordnete Ramiz Salkić, kritisierte, dass die Polizei in der RS die Bosniaken nicht schützen würde. "Wenn Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte ihren Beitrag leisten würden und die Täter bestraft würden, wäre das für jeden zukünftigen Angreifer demotivierend", meint Salkić. Weil aber die politischen Vertreter der Republika Srpska keine versöhnlichen Botschaften senden würden, dass Serben mit Bosniaken zusammenleben, einen gemeinsamen Staat aufbauen und gute Beziehungen entwickeln sollten, würden die Täter ermuntert, die Bosniaken anzugreifen. "Der Angriff geschah, weil bei Botschaften verschickt wurden, dass dies serbisches Land sei und dass niemand Serben etwas antun könne", so Salkić.

Sicherheitslage kaum kontrollierbar

In dem angespannten Zustand lösen die Drohungen von Dodik und die sogenannten "Proteste" an der Entitätslinie Angst in der Bevölkerung aus. Besonders besorgniserregend ist für die Bürgerinnen und Bürger, dass die Sicherheitslage von den Institutionen kaum kontrolliert werden kann. Denn das bosnische Sicherheitsministerium ist mittlerweile durch die neue Koalition auf Staatsebene von Interessen des Nachbarstaats Serbien unterlaufen.

So sind zwei Berater aus dem Sicherheitsapparat Serbiens mittlerweile für das bosnische Sicherheitsministerium tätig, das von dem serbischen Nationalisten Nenad Nešić geleitet wird. Sicherheitsexperten vermuten, dass durch das Unterlaufen des bosnischen Sicherheitsministeriums im Ernstfall dafür gesorgt werden soll, dass die bosnischen Sicherheitskräfte, die den Staat schützen sollen, dies unterlassen. Die Polizei der Republika Srpska wiederum gilt als nicht verfassungstreu und könnte sich in einer Krisensituation hinter Dodik stellen.

Putin hat unter den bosnischen Serben viele Verehrer.
Putin hat unter den bosnischen Serben viele Verehrer.
AFP/ELVIS BARUKCIC

Dieser drohte in den vergangenen Tagen auch damit, den Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft, Christian Schmidt, verhaften zu lassen, wenn dieser in die Republika Srpska reisen sollte. Sicherheitsexperten zufolge könnte in einem solchen Fall die EU-geführte Militärmission Eufor Schmidt aus der Haft in der Republika Srpska herausholen. Die Eufor kann Schmidt aber nicht bei seiner Reise durch die Republika Srpska eskortieren.

Eufor zu schwach

Das Eufor-Mandat ist auch stark eingeschränkt, wenn es darum geht, die Polizei der Republika Srpska insgesamt zu stoppen. Eines der größten Sicherheitsprobleme besteht darin, dass die Eufor nur über äußerst wenig Truppen verfügt. Zurzeit sind es 1.350 Soldaten. Mit dieser Anzahl könnte man im Ernstfall bloß den Flughafen von Sarajevo besetzen, aber nicht die Bevölkerung schützen.

Die aktuellen Proteste werden von Dodiks Anhängern organisiert, weil die Staatsanwaltschaft von Bosnien und Herzegowina eine Anklage gegen ihn wegen Nichtumsetzung der Entscheidungen des Hohen Repräsentanten eingereicht hatte. Das Büro von Dennis Bećirović, einem der drei Mitglieder im Staatspräsidium, hat indessen 24 Verfassungsbrüche von Dodik aufgelistet. Demnach müsste die Staatsanwaltschaft schon viel mehr Verfahren gegen Dodik wegen schwerer Verfassungsbrüche eingeleitet haben. Doch die Justiz in Bosnien-Herzegowina ist von parteilichen Interessen – unter anderem von jenen von Dodik – unterlaufen. Deshalb ist die Staatsanwaltschaft nicht in der Lage, gegen den Politiker vehementer vorzugehen.

Rechtsexperten fordern seit vielen Jahren eine Reform der Justiz, um unabhängige Richter und Staatsanwälte zu ermöglichen, die gegen den Zugriff der Parteien vorgehen können, auch um den Staat zu schützen.

Sniper auf den Dächern

Bei den Protesten für Dodik war vergangene Woche auch Željka Cvijanović, ebenfalls Mitglied der Präsidentschaft von Bosnien und Herzegowina, zugegen. Die Politikerin ist eine enge Verbündete von Dodik. Sie sagte, dass es sich bei dem ersten Protest nur um eine Probe gehandelt habe, weitere würden folgen. Medien veröffentlichten Bilder von Snipern, die sich auf Hochhäusern in der Nähe von Sarajevo postiert hatten. Das erinnerte viele an den Krieg und die Menschen, die in den 1990er-Jahren in Sarajevo von Snipern ermordet wurden. Die Dodik-Anhänger geben vor, dass die Republika Srpska bedroht sei. Sie drehen also den Spieß um und stellen sich als Opfer dar. An den Einfahrten zur Stadt Sarajevo wurden bereits vor ein paar Wochen große Schilder angebracht, auf denen geschrieben steht, dass Serben aus Sarajevo vertrieben worden seien, um den Opferstatus noch zu betonen.

Doch die Anzahl der Serbinnen und Serben in Bosnien und Herzegowina, die sich der jetzigen "Protestbewegung" für Dodik anschließen, ist nicht groß. Nur ein paar Hundert Leute kamen. Denn viele Serbinnen und Serben in Bosnien und Herzegowina wollen friedlich mit allen anderen Menschen im Staat zusammenleben, sie wollen keine Eskalation, und sie unterstützen auch nicht die Politik von Dodik. Deshalb ist es auch irreführend, Dodik als "Serbenführer" zu bezeichnen, weil ihm nicht alle Serben und Serbinnen folgen. Es gibt Serbinnen und Serben, die ganz anderer Meinung sind. Verständlicherweise fühlen sich diese Menschen ungerecht behandelt, wenn sie alle nur nach der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe eingeteilt werden und nicht danach, welche politischen Positionen sie einnehmen.

Aufstockung gefordert

Sicherheitsexperten befürchten vor allem, dass es bei den sogenannten "Protesten" der Dodik-Anhänger zu Zusammenstößen mit Gegendemonstranten kommen könnte. Die Eufor war zuletzt im Hintergrund damit beschäftigt, solche Zusammenstöße zu verhindern. Bei seinem jüngsten Besuch in Bosnien und Herzegowina vor ein paar Tagen soll Thomas Goffus, einer der Stellvertreter des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, allerdings über die Sicherheitslage in Bosnien und Herzegowina "erschüttert" gewesen sein.

Er habe nicht gedacht, dass die Lage so ernst sei, erzählen Sicherheitsexperten von Goffus' Einschätzung. Er soll deshalb die sofortige Aufstockung der Eufor-Truppen um mindestens 1.000 Mann gefordert habe. Deshalb soll es auch ein Treffen zwischen dem Nato-Rat und dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK) der EU kommen. In der EU gibt es allerdings viele Kräfte, die versuchen, den Ernst der Lage herunterzuspielen.

Zurzeit werden in Sicherheitskreisen mögliche Szenarien in den kommenden Wochen durchgedacht. Am 4. November soll im UN-Sicherheitsrat jedenfalls über die Verlängerung der Eufor-Mission abgestimmt werden. Es kann sein, dass Russland ein Veto einlegt. Wenn dann die Eufor das Land verlassen muss, könnte ein Sicherheitsvakuum entstehen, denn obwohl jetzt bereits klar ist, dass in diesem Fall eine Nato-Mission stationiert werden würde, könnte dies einige Zeit in Anspruch nehmen, bis die Nato-Truppen tatsächlich in Bosnien-Herzegowina eintreffen.

Dodik könnte Unabhängigkeit ausrufen

Es besteht die Sorge, dass Dodik in diesem Zeitraum die Unabhängigkeit der Republika Srpska ausrufen könnte und dass der Kreml diese Unabhängigkeit anerkennen könne. Die Republika Srpska unterstützt ihrerseits die ebenfalls völkerrechtswidrigen Ausrufungen der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Luhansk und Donezk. Manche Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass die Entscheidung für Dodiks kommende Schritte im Kreml getroffen werden.

Milorad Dodik war im Mai zu Besuch bei Wladimir Putin.
Milorad Dodik war im Mai zu Besuch bei Wladimir Putin.
EPA

Die sogenannten "Proteste" von Dodik-Anhängern werden offenbar auch als "Proben" für diesen Tag X betrachtet, etwa um zu eruieren, wie viele Leute man über Mobiltelefone für Aktionen mobilisieren kann. Eine Unabhängigkeitserklärung von Dodik, die von Russland unterstützt würde, würde dazu führen, dass die EU vor einer schweren Krise stehen und auch die Nato sehr beschäftigt sein würde. Das könnte vor allem deshalb im Interesse des Kreml sein, weil damit vom Krieg gegen die Ukraine abgelenkt werden könnte und Kräfte anderweitig gebunden würden. Klar ist jedenfalls, dass der Westen nicht auf die Wünsche des Kreml eingehen will, wenn es darum geht, der Eufor nur dann zuzustimmen, wenn sie ihr Exekutivmandat aufgibt. (Adelheid Wölfl, 8.9.2023)