Mehrere Staatenvertreter sitzen. Groß über ihnen steht G20.
Indiens Premierminister Narendra Modi eröffnete den G20-Gipfel in Neu-Delhi.
AFP/POOL/LUDOVIC MARIN

Neu-Delhi – Beim G20-Gipfel in Neu Delhi haben sich die führenden Industrie- und Schwellenländer trotz großer Meinungsunterschiede zum Krieg in der Ukraine auf eine gemeinsame Abschlusserklärung geeinigt. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur wird in der Textpassage zum Ukrainekrieg sowohl auf Forderungen Russlands als auch des Westens eingegangen. Kiew kritisierte den Kompromiss.

Ein Kompromiss

Moskau erreichte demnach, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht mehr wie noch im Vorjahr explizit verurteilt wird. Stattdessen wird nun nur noch auf entsprechende Resolutionen der Vereinten Nationen verwiesen. Die Staats- und Regierungschefs der G20 verurteilten demgemäß in der gemeinsamen Gipfelerklärung allgemein den "Einsatz von Gewalt" zur Erzielung von "Geländegewinnen" in der Ukraine, ohne dass die russische Aggression gegen das Nachbarland in dem Text beim Namen genannt wird.

Der Westen handelte hingegen eine Formulierung heraus, nach der alle Staaten von Angriffen auf die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit anderer Staaten Abstand nehmen müssen. Zudem werden zumindest indirekt wieder die Atomwaffendrohungen Russlands kritisiert. "Der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen ist unzulässig", heißt es in dem Text, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Er wurde von Indien gemeinsam mit Südafrika, Brasilien und Indonesien vorgeschlagen.

US-Präsident Joe Biden
US-Präsident Joe Biden ist in Neu-Delhi zu Gast.
AFP/POOL/EVAN VUCCI

Besonders wichtig dürfte für Moskau sein, dass in dem Text auch auf russische Forderungen nach einer Lockerung der westlichen Sanktionen eingegangen wird. So heißt es dort, man rufe dazu auf, die "unverzügliche und ungehinderte Lieferung von Getreide, Lebensmitteln und Düngemitteln/Zusätzen von der Russischen Föderation und der Ukraine" zu gewährleisten. Dies sei notwendig, um den Bedarf in Entwicklungsländern, besonders denen in Afrika zu befriedigen.

Der russische Machthaber Wladimir Putin, der sich in Neu-Delhi von seinem Außenminister Sergej Lawrow vertreten ließ, hatte zuletzt unter Verweis auf westliche Sanktionen gegen sein Land ein Abkommen für den Transport von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer aufgekündigt. Er argumentiert, dass die Strafmaßnahmen auch den Transport russischer Nahrungs- und Düngemittel in andere Teile der Welt behindern.

Hartes Ringen

Aus Delegationen war zuvor von einem harten Ringen der Unterhändler um die Formulierungen berichtet worden. Den Angaben zufolge stand dem Westen eine Allianz aus China und Russland gegenüber. Peking gilt als international wichtigster Partner Moskaus und hat den Angriffskrieg auf die Ukraine bisher nicht verurteilt. Wegen des Streits war offen gewesen, ob es wie üblich eine gemeinsame Abschlusserklärung der Teilnehmer geben würde.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte Bedingungen für die Zustimmung zu einer Abschlusserklärung gestellt. "Wichtig ist, dass wir die Grundsätze, die Grundprinzipien, aufrechterhalten", sagte sie in Neu-Delhi in einem Interview von ARD und ZDF. Dazu gehöre zum Beispiel, dass es in der Ukraine einen gerechten und dauerhaften Frieden geben müsse, die Unverletzlichkeit von Grenzen und dass annektierte Gebiete nicht international anerkannt würden. Auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wertete die Ukraine-Passage als Erfolg. Er würdigte am Samstag in einer Pressekonferenz in Neu-Delhi vor allem, dass darin die "territoriale Integrität" aller Länder betont werde. Die USA kommentierten die Gipfelergebnisse als Beleg dafür, dass die BRICS-Gruppe wichtiger Schwellenländer kein Konkurrent zum G20-Format sei.

Reaktionen von Ukraine und Russland

Beim vorherigen G20-Gipfel auf der indonesischen Ferieninsel Bali hatte sich Moskau 2022 offensichtlich auf Druck Chinas einverstanden erklärt, in die Abschlusserklärung den Satz aufzunehmen: "Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste." Russlands Position wurde mit den Worten abgebildet: "Es gab andere Auffassungen und unterschiedliche Bewertungen der Lage und der Sanktionen."

Die Ukraine war naturgemäß angesichts der Zugeständnisse gegenüber Russland und der fehlenden Verurteilung Moskaus mit der Abschlusserklärung nicht zufrieden. Die gemeinsame Erklärung der führenden Industrie- und Schwellenländer zur russischen Invasion in der Ukraine sei "nichts, worauf man stolz sein könnte", teilt der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums, Oleg Nikolenko, auf Facebook mit. Es sei klar, dass eine Teilnahme der ukrainischen Seite an dem G20-Treffen es den Teilnehmern ermöglicht hätte, die Situation besser zu verstehen.

Lob von Russland

Russland lobte das Abschlussdokument dagegen als "ausgewogen". Moskau begrüße das Ergebnis von Neu-Delhi, sagte die russische Verhandlungsführerin Swetlana Lukasch vor Journalisten. Russland hatte zuvor betont, dass es ein Abschlussdokument nur mittragen werde, wenn auch seine Position darin enthalten sei. Gleichwohl habe es sich um einen der schwierigsten Gipfel gehandelt, sagte Lukasch. "Die Abstimmung zur Erklärung hat 20 Tage vor dem Gipfel gedauert und fünf Tage hier vor Ort", erzählte sie.

Lukasch räumte ein, dass es zur Ukraine "sehr schwierige Verhandlungen" gegeben habe. Letztlich hätten die Brics-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und andere Partner zu der ausbalancierten Erklärung beigetragen. Es seien insgesamt vor allem für die Entwicklungsländer wichtige Ergebnisse erzielt worden. Dabei gehe es um die Reform der internationalen Finanzsysteme, die Sicherheit der Lebensmittelsicherheit und um das Klima sowie Energiefragen.

Zahlreiche Flaggen sind in einer Reihe gehisst.
Flaggenparade.
IMAGO/dts Nachrichtenagentur

Fokus auf erneuerbare Energien

Ein anderer Konfliktpunkt war, ob der G20-Gipfel im Jahr 2026 in den USA oder anderswo ausgerichtet werden sollte. Die USA setzten sich dabei nach Angaben von Diplomaten gegen China durch. Der Gipfel im nächsten Jahr wird in Brasilien, der im Jahr 2025 in Südafrika ausgerichtet.

Die G20 erklärten in dem Text auch ihre Unterstützung für "Bemühungen zur Verdreifachung der weltweiten Kapazität für erneuerbare Energien". "Wir verpflichten uns, dringend unser Handeln in der Bewältigung ökologischer Krisen und Herausforderungen zu beschleunigen, einschließlich dem Klimawandel", hieß es. Ein Ende der Nutzung fossiler Energien wird in der Erklärung nicht gefordert. Weitere Details ließen zunächst auf sich warten.

Afrikanische Union wird G20-Mitglied

Die G20-Gruppe nimmt unterdessen die Afrikanische Union (AU) als Mitglied auf. Das sagte Indiens Premierminister Modi am Samstag. "Im Einverständnis mit euch allen möchte ich den Vorsitzenden der Afrikanischen Union einladen, seinen Sitz als permanentes Mitglied der G20 einzunehmen", sagte Modi. Der Präsident der Komoren und derzeitige AU-Vorsitzende, Azali Assoumani, ging auf Modi zu und umarmte ihn.

Der indische Regierungschef versucht, sein Land als Anführer des globalen Südens zu profilieren. Die Aufnahme der Afrikanischen Union ist für ihn deshalb ein wichtiger Erfolg des Gipfels. Bisher war die Europäische Union mit ihren 27 Mitgliedstaaten die einzige Regionalorganisation, die Mitglied der G20 ist. Der AU gehören alle international anerkannten afrikanischen Länder sowie das völkerrechtlich umstrittene Land Westsahara an. Insgesamt sind es 55 Staaten.

Indiens Premierminister Narenda Modi (rechts im Bild) mit dem Staatspräsidenten der Komoren und Vorsitzendem der Afrikanischen Union Azali Assoumani. 
Indiens Premierminister Narenda Modi (rechts im Bild) mit dem Staatspräsidenten der Komoren und Vorsitzendem der Afrikanischen Union Azali Assoumani.
AFP/POOL/EVAN VUCCI

Bharat statt Indien

EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen begrüßten die Entscheidung. Zur G20-Gruppe gehören bereits - neben der EU - 19 der stärksten Volkswirtschaften der Welt. Sie ist ein zentrales Forum für die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit, beschäftigt sich inzwischen aber auch mit vielen anderen globalen Themen - von der Terrorbekämpfung über den Klimaschutz bis hin zu Kriegen. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist sie eins der wenigen verbliebenen Foren, wo der Westen und Russland direkt zusammentreffen.

Bei Modis Auftaktrede war zuvor aufgefallen, dass auf dem Schild vor ihm nicht "India", sondern die Aufschrift "Bharat" zu lesen war. Das dürfte Spekulationen über eine Namensänderung des Landes weiter anheizen. "Bharat" ist ein altes Sanskrit-Wort für Indien, das beispielsweise in der Verfassung als Synonym verwendet und auch in der Bevölkerung häufig benutzt wird. Manche radikale Hindus stören sich am amtlichen Landesnamen Indien. Sie argumentieren, dieser sei von den britischen Kolonialherren populär gemacht worden und deshalb ein Symbol der Sklaverei.

Indiens Premier Narendra Modi ist zu sehen. Auf dem Schild vor ihm steht
Bharat statt Indien.
AFP/POOL/LUDOVIC MARIN

Schiffs- und Zugprojekt

Die Europäische Union, die USA und weitere Partner haben ein riesiges Schienen- und Schifffahrtsprojekt gestartet. Es soll Europa, den Nahen Osten und Indien besser miteinander verbinden, wie die Beteiligten am Samstag beim G20-Gipfel in Neu-Delhi ankündigten. "Das ist nichts anderes als historisch", sagte von der Leyen. Sie sprach von der bisher direktesten Verbindung zwischen Indien, dem Persischen Golf und Europa – mit einer Eisenbahnverbindung, die den Handel zwischen Indien und Europa um 40 Prozent beschleunige. Das Vorhaben gilt auch als Antwort auf Chinas Initiative für eine "Neue Seidenstraße".

US-Präsident Joe Biden sprach von einem "historischen Wirtschaftskorridor". Die Vereinigten Staaten, Indien, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und die Europäische Union haben sich demnach auf eine entsprechende Absichtserklärung verständigt. Das Nachrichtenportal Axios hatte zuvor berichtet, dass es sich um eine der "wichtigsten Initiativen" Washingtons handle, die darauf abziele, Chinas Einfluss im Nahen Osten einzudämmen.

Teil des jetzt angekündigten Vorhabens ist auch der Ausbau von Stromnetzen und Energieprojekten. Auch Hochgeschwindigkeitsdatenkabel gehören zu dem Plan. Mit Stromkabeln und einer Pipeline für sauberen Wasserstoff soll den Angaben nach auch der Handel mit sauberer Energie zwischen Asien, dem Nahen Osten und Europa gestärkt werden. Dem Weißen Haus zufolge sollen Pipelines, die von Israel nach Europa verlegt werden, sauberen Wasserstoff nach Europa liefern. (APA, red, 9.9.2023)