Entlang einer paneuropäischen Magistrale könnte sich der Fortgang der ukrainischen Gegenoffensive in den kommenden Wochen entscheiden. Die E-58 verbindet Wien mit dem 2.200 Kilometer entfernten Rostow am Don im Süden Russlands. Auf einer Länge von 550 Kilometern verläuft das Asphaltband als Autobahn M-14 quer durch den weitgehend flachen Süden der Ukraine von Odessa nach Mariupol – großteils durch russisch besetztes Gebiet. Zwei Wegmarken entlang der Strecke, die Stadt Melitopol sowie der Hafen Berdjansk am Asowschen Meer, sind wichtige Ziele der ukrainischen Gegenoffensive, die nun seit 100 Tagen läuft. Ob diese doch noch den von Kiew und seinen westlichen Partnern erhofften Erfolg bringt, hängt auch davon ab, wie nahe die ukrainischen Truppen – oder zumindest ihre Raketenwerfer – der M-14 kommen.

Ukraine Präsident Selenskyj plant die Gegenoffensive.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, hier bei einem Treffen mit Kommandeuren vergangene Woche, bittet den Westen dringend um weitere Waffenlieferungen.
Reuters/Ukrainian Presidency

Neben der Brücke von Kertsch ist der Korridor auch die wichtigste Lebenslinie der russisch besetzten Krim. Nicht nur Waffen, Munition und Proviant werden dort verschoben, auch eine Eisenbahnstrecke, Treibstofftanks, Kommandoposten sowie die wichtigsten Kommunikationslinien der russischen Besatzungstruppen befinden sich nahe dieser Straße. Fest steht: Will die Ukraine ihr großes Ziel erreichen, die Befreiung aller von Russland besetzten Gebiete nämlich, führt an dieser Versorgungsstrecke kein Weg vorbei. Doch kann das vor dem Winter noch gelingen? Und was tut Russland, um die Pläne der ukrainischen Armee zu vereiteln? DER STANDARD hat mit Militärexperten gesprochen und sie gefragt, wie die ukrainische Frühlingsoffensive, die schließlich zu einer Sommeroffensive wurde und bald zu einer Herbstoffensive wird, doch noch Resultate bringen könnte.

Die Zeit wird knapp

Nach ihren jüngsten Erfolgen bei Werbowe im Südosten der Oblast Saporischschja, wo erstmals eine Bresche in die berüchtigte russische "Surowikin-Linie" geschlagen wurde, dürften die ukrainischen Truppen nun alles daran setzen, genau dort nachzusetzen. Viel Zeit bleibt Kiew dafür nicht mehr. Der Großteil der eigens für die Gegenoffensive aufgestellten Brigaden, auch die neun, die vom Westen ausgerüstet wurden, sind bereits nördlich von Melitopol im Einsatz. Weil das eigentliche Zwischenziel, nämlich durch Vorstöße einen Keil in die besetzten Gebiete zu treiben, aufgrund der massiven russischen Verteidigungslinien, mangelnder eigener Luftstreitkräfte sowie der nahenden Schlammperiode vorerst kaum mehr erreichbar scheint, dürften Kiews Strategen nun notgedrungen auf Plan B setzen: "Man spricht jetzt nicht mehr davon, dass man physisch bis ans Asowsche Meer vordringen will, sondern will stattdessen einen so großen Raum in Besitz nehmen, um von dort aus mit weitreichenden Waffen bis an die M-14 und die Küste zu wirken", sagt Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt.

Korridor in Reichweite

Die Formel, die zu einem Zwischenerfolg bis zum Winter führen könnte, gestaltet sich – in der Theorie – einfach: Je weiter die ukrainische Armee von Norden aus vorrückt, desto enger wird der Korridor für die russischen Truppen. Gelingt es ihnen, ihre Artilleriestellungen so weit vorzurücken, dass die M-14 und andere Versorgungslinien in Reichweite der Himars-Raketenwerfer gelangen, könnte sich der Handlungsspielraum für die russischen Truppen empfindlich verkleinern. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der Eisenbahnknotenpunkt Tokmak, der seit März 2022 von der russischen Armee zu einem Logistikzentrum in der Region ausgebaut wurde. Wenn es der Ukraine gelinge, diesen Raum einzunehmen und sich dort zu konsolidieren, wäre das nach Reisners Ansicht ein "Kompromiss, der sich durchaus als Erfolg verkaufen ließe".

Ukrainischer Raketenwerfer
Die ukrainischen Truppen verzeichnen im Kampf gegen die russischen Stellungen einen immensen Munitionsverbrauch.
REUTERS/VIACHESLAV RATYNSKYI

Für die Moral der ukrainischen Soldaten, aber auch für jene der westlichen Waffenhelfer, wäre die Befreiung der – vor dem Krieg – 32.000-Einwohner-Stadt zwar bedeutsam. "Wirkliche Kontrolle über Versorgungslinien wie die M-14 kann man aber nur dann ausüben, wenn man vor Ort ist", sagt Militäranalyst Walter Feichtinger vom Center für Strategische Analysen (CSA) in Wien. Und ergänzt: "Die bittere Erkenntnis ist, dass der erhoffte Vorstoß bis ans Asowsche Meer vorerst schlicht nicht machbar ist."

Annähern an Tokmak

Ob die Rückeroberung Tokmaks tatsächlich gelingt, wagt keiner der beiden Fachmänner zu prognostizieren. Der Schlüssel dazu dürfte jedenfalls im etwa 15 Kilometer entfernten Vorort Nowoprokopiwka liegen. Am Wochenende meldete das US-Institute for the Study of War, dass sich die ukrainischen Truppen vom Nordosten und vom Osten her auf die Ortschaft zubewegten.

Gegenoffensive Karte
Die ukrainische Gegenoffensive verortet.
Die ukrainische Gegenoffensive verortet.
Grafik: STANDARD

Fest steht aber, dass sie bei einem weiteren Vorrücken zuerst auf die nächste Schicht der russischen Verteidigungslinien treffen, die seit Herbst 2022 mit unzähligen Minen, Panzersperren, tiefen Gräben und anderen Hindernissen ausgebaut wurden. Zudem haben die neuen Aufklärungsmöglichkeiten, etwa mithilfe von Drohnen, den Kampfwert der – ohnehin spät gelieferten – westlichen Panzer reduziert. Einzelne Durchbrüche habe Russland dabei durchaus eingepreist, sagt Reisner: "Die russischen Linien haben taktisch vor allem den Zweck, die ukrainischen Truppen abzunutzen."

"Fuß in der Tür"

Ein nachhaltiges Durchbrechen der russischen Verteidigungslinien vermag Reisner im Moment jedenfalls noch nicht auszumachen. Der Analyst vergleicht die aktuelle Situation an der Front mit einem Häuserkampf: Die Ukraine, sagt er, habe mit dem Durchbrechen der Gefechtsvorpostenlinie bei Werbowe nun aber immerhin "einen Fuß in der Tür".

Was genau sie im Haus selbst aber erwartet, also an den weiteren russischen Linien, vermag trotz intensiver Aufklärung durch Kiews westliche Partner niemand verlässlich vorherzusagen. Das Ziel: die Bresche nach Westen und Osten zu verbreitern und gleichzeitig nach Süden in Richtung Tokmak vorzustoßen. "Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich die Ukrainer in den eroberten Gebieten kaum in eigenen Stellungen verschanzen können, um sich der Gegenangriffe der Russen zu erwehren. Die Himars-Raketenwerfer brauchen außerdem Manövrierraum, weshalb es wichtig ist, eine gewisse Breite zu entfalten." Russische Gegenangriffe führten zudem immer wieder zu großen Verlusten, auch an westlichem Gerät, sagt der Analyst. "Die Frage ist jetzt, ob die ukrainischen Truppen stark genug sind, ihren Erfolg nun auszuweiten. Das ist von hier aus aber nicht abzuschätzen."

Noch zu wenig Masse

Doch hat es die Ukraine tatsächlich geschafft, nach monatelangen, zähen Stellungskämpfen wieder in Bewegung zu kommen, wie ein weiteres Ziel ihrer Offensive lautete? Analyst Feichtinger: "Ich sehe da noch zu wenig Masse hinter der Bewegung. Lokales Einbrechen durch eine Linie bedeutet nicht, dass man dem Krieg an der Frontlinie entgangen ist."

Ukrainischer Soldat grüßt Dorfbewohnerin von Robotyne.
Am 22. August gingen die Bilder von der Befreiung von Robotyne um die Welt.
via REUTERS/47TH SEPARATE MECHAN

Trotzdem mehrten sich zuletzt die Indizien, wonach die Ukraine mit ihren Störangriffen auf die Versorgungslinien erfolgreich ist: Russlands Überlegenheit, etwa was Artillerie betrifft, dürfte nicht mehr so erdrückend sein wie vor der Offensive. Bislang vermag man dies aber mit intensiven Drohnenangriffen auszugleichen. Der US-Militärgeheimdienst Defense Intelligence Agency schätzte am Wochenende die Wahrscheinlichkeit, dass die ukrainische Armee bis Ende des Jahres auch die restlichen russischen Sperrwälle überwindet, auf 40 bis 50 Prozent.

Berichte über Engpässe auch bei Russen

Denn auch was ihr Personal betrifft, gelangt die russische Armee angesichts der vorrückenden Ukrainer mitunter durchaus an ihre Grenzen. Nach der Befreiung von Robotyne Ende August musste Moskau Berichten zufolge Truppen von der nördlichen Front bei Kupjansk in die betroffene Region verlegen, um einen weiteren Vormarsch der ukrainischen Verbände zu vereiteln. Bis jetzt sei von einem echten Wendepunkt, der den ersehnten Vormarsch in Richtung des Asowschen Meeres nach sich ziehen könnte, aber noch nichts zu bemerken, sagt auch Feichtinger: "Der bisherige Gefechtsverlauf deutet nicht darauf hin, dass es der Ukraine gelingt, rasch in die Tiefe vorzustoßen."

Militärgeheimdienst Chef Ukraine Budanow
Kyrylo Budanow will sich nicht stressen lassen.
REUTERS/VALENTYN OGIRENKO

Die Ukraine selbst will nach 100 Tagen intensiver Kämpfe von allzu großer Hast nichts wissen. Als US-Generalstabschef Mark Milley am Wochenende das Zeitfenster, bevor der einsetzende Regen die Landschaft in der Ukraine in Schlamm verwandelt und Kämpfe mit schwerem Gerät erschwert, auf 30 bis 45 Tage umriss, antwortete Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdiensts, postwendend: Sein Land werde auch im Winter weiterkämpfen. So lange eben, bis alle Ziele erreicht seien. (Florian Niederndorfer, 12.9.2023)