Knapp ein Jahr nach Beginn der monatelangen Massenproteste, die das Mullah-Regime brutal von seinen Milizen zerschlagen ließ, ist es scheinbar wieder ruhig auf den Straßen im Iran. Doch der Schein trügt: Frauen ohne Kopftuch gehören trotz drakonischer Strafen nunmehr zum Alltag, auf den Straßen, auf dem Fahrrad, in öffentlichen Verkehrsmitteln – und das nicht nur in der Hauptstadt. Es ist ein mächtiges Zeichen zivilen Ungehorsams, das zeigt, dass der Dissens unter der Oberfläche weiterbrodelt.

Auch über die iranischen Landesgrenzen hinaus wurde Mahsa Jina Aminis gedacht – etwa im indische Neu-Delhi kurz nach ihrem Tod vergangenes Jahr.
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Am Mittwoch jährt sich erstmals die Festnahme der iranischen Kurdin Mahsa Amini, mit kurdischem Vornamen Jina, deren Tod in Polizeigewahrsam die massiven Proteste losgetreten hatte. Die 22-Jährige war am 13. September vor einem Jahr mit ihrem Bruder in Teheran unterwegs, als sie von der Sittenpolizei inhaftiert wurde. Sie habe "zu enge" Kleidung getragen, und ihr Kopftuch habe ihr Haar nur unzureichend bedeckt.

Nach Angaben der Familie, die sich auf Augenzeugen beruft, habe Amini im Polizeivan Beschimpfungen und Attacken über sich ergehen lassen müssen. Wenig später sei sie auf der Polizeistation kollabiert, ins Spital brachte man sie erst nach rund zwei Stunden. In einem später von den Spitalsbehörden wieder gelöschten Tweet hieß es, sie sei bereits bei ihrer Einlieferung hirntot gewesen und dann sogleich in ein Koma gefallen – bis sie am 16. September schließlich verstarb.

Funke gezündet

Noch am Todestag begannen Demonstrationen, erst in Teheran, dann in Aminis Heimatstadt Saqqez in der Region Kurdistan und schließlich im ganzen Land. Der Funke für die größten Proteste seit 2009 war gezündet und führte zu einem nie dagewesenen Schulterschluss: Frauen, die sich seit Jahrzehnten mit immer schmäler werdenden Kopftüchern in zivilem Ungehorsam übten, ließen diese nun gänzlich fallen. Junge Männer, insbesondere in den Kurdengebieten und im ärmlichen südöstlichen Balutschistan (beide sunnitisch), aber auch im Rest des sonst mehrheitlich schiitischen Landes, die Frauenanliegen unterstützen, aber auch gegen die eigene Perspektivlosigkeit und massive Diskriminierung auf die Straße gingen. Quer durch die Bank wurden nicht nur Reformen, sondern ein Systemwechsel der immer radikaler werdenden Theokratie gefordert. Und dargelegt, dass die Befreiung der Gesellschaft mit der Befreiung der Frau eng zusammenhängt.

Dass sich der Frust und die Ablehnung nicht mehr auf den Straßen entladen, ist der massiven Gewalt geschuldet, die das Regime zur Zerschlagung der Proteste eingesetzt hat. Sie lässt sich am deutlichsten in Zahlen ausdrücken: mindestens 537 tote Demonstrantinnen und Demonstranten, 22.000 Festnahmen, unzählige Verletzte (insbesondere durch Projektile) und nicht zuletzt zahlreiche Hinrichtungen. Das Regime rund um Hardliner-Präsident Ebrahim Raisi und den Obersten Geistlichen Ali Khamenei setzt nach wie vor auf diese Strategie, wie auch die jüngsten Verhaftungswellen zeigen: Festgenommen wurden zuletzt insbesondere Frauenrechtsaktivistinnen, aber auch Angehörige im Vorjahr getöteter Demonstrierender.

Dank der Brutalität seiner Milizen (Revolutionsgarden, insbesondere Basij-Miliz) sitzt das Mullah-Regime weiter fest im Sattel. Doch die Angst vor weiteren Protesten ist groß: In einem offenen Brief aus dem Gefängnis Evin riefen verhaftete Frauen zu Demonstrationen am Samstag auf, dem Todestag Aminis. Die Eltern der Kurdin luden zu einer friedlichen Versammlung am Grab ihrer Tochter. Vonseiten der Justiz wird immer wieder gewarnt, dass mit allen Mitteln gegen "Regelbrecher" vorgegangen werde. Auch sollten aus der Haft Entlassene, die erneut bei Demonstrationen erwischt werden, kein Erbarmen erwarten. Ein weiterer Fokus liegt auf den Universitäten: Mehr als 150 namhafte Professorinnen und Professoren wurden entlassen und durch regimetreue, zum Teil nicht wissenschaftlich qualifizierte Personen ersetzt.

Gefängnis für die Bildungsschicht

"Ein System, das seine gesamte Elite inhaftiert hat, ist ein gescheitertes System. Und genau das ist der Iran heute: ein Gefängnis für seine Bildungsschicht", sagte der österreichisch-iranische Doppelstaatsbürger Kamran Ghaderi jüngst dazu im Nationalrat, wo der grüne Parlamentsklub zu einer Iran-Konferenz lud. Ghaderi weiß, wovon er spricht: Er saß siebeneinhalb Jahre unschuldig und ohne Hoffnung in "Geiselhaft" im berüchtigten Evin-Gefängnis, wie er dem STANDARD sagt.

Dennoch warnt der österreichische Iranist Walter Posch vor zu viel Optimismus: "Das Regime ist flexibler, als man glaubt." Noch könne es seine Anhänger versorgen und überzeugen, Desertionen habe es keine gegeben. Die zunehmende Verweigerung des Kopftuchs sei für das Regime aber eine echte ideologische Niederlage: Es zeige, dass es einem Gros der Milizen letztlich egal sei, ob Frauen verschleiert sind. Außerdem treten Frauen insbesondere in jenen Vierteln ohne Kopftuch auf, in denen "das Regime und der islamische Fundamentalismus bisher stark verankert" waren, so Posch. Dieser Realität, wie auch der neuen Solidarität zwischen Frauen, Kurden und Sunniten, müsse sich das Regime stellen. (Flora Mory, N. N. aus Teheran, Noura Maan, 13.9.2023)