Migranten auf Lampedusa.
Migranten auf Lampedusa.
EPA/ELIO DESIDERIO

Rom/Berlin – Italien ist mit beispiellosen Migrationsströmen konfrontiert. Seit Montag trafen 8.141 Menschen nach Seefahrten über das Mittelmeer in Italien ein, davon über 5.000 allein am Dienstag, geht aus Angaben des italienischen Innenministeriums hervor. Damit stieg die Zahl der seit Anfang 2023 eingetroffenen Migranten auf 123.863, das sind 89 Prozent mehr gegenüber dem Vergleichszeitraum 2022.

Am frühen Mittwoch erreichten weitere 29 Boote mit fast 1.300 Menschen an Bord Lampedusa. Bereits am Montag hatten rund 1.900 Migranten auf 51 Booten die Mittelmeerinsel erreicht. 6.762 Menschen befinden sich im Auffanglager der Insel.

Zu angespannten Momenten kam es am Mittwochnachmittag im Hafen von Lampedusa, wo Polizisten Hunderte von Migranten zurückdrängten, die den Hafen verlassen wollten. Migranten versuchten, die Absperrung zu durchbrechen, worauf die Polizisten reagierten, berichteten italienische Medien. Die Freiwilligen des Roten Kreuzes versuchten, die erhitzten Gemüter zu beruhigen, und verteilten unter den ankommenden Migranten Wasserflaschen.

Migranten auf Lampedusa.
Seit Montag trafen 8.141 Migranten nach Seefahrten über das Mittelmeer in Italien ein.
EPA/ELIO DESIDERIO

Deutschland stoppt Aufnahme von Migranten aus Italien

Deutschland hat die freiwillige Aufnahme von Migranten aus Italien ausgesetzt. Wie die "Welt" aus Kreisen der deutschen Innenbehörden erfuhr, wurden die Auswahlprozesse für in Italien ankommende Asylsuchende im Rahmen des "freiwilligen Solidaritätsmechanismus" eingestellt und dieser Schritt Rom in einem Brief mitgeteilt. Seitens der italienischen Behörden gab es diesbezüglich noch keine Bestätigung.

Das deutsche Innenministerium erklärte, wegen hohen Migrationsdrucks nach Deutschland sei Italien mitgeteilt worden, die notwendigen Überprüfungen der Migranten würden von deutscher Seite "bis auf weiteres verschoben". Hintergrund der Aussetzung sei die anhaltende Weigerung Italiens, sogenannte Dublin-Überstellungen aus Deutschland zu ermöglichen. Nach dem geltenden EU-Asylrecht sollen Asylsuchende, die unerlaubt in einen anderen Mitgliedsstaat weiterziehen, in der Regel wieder in den Ersteinreisestaat zurückgebracht werden. Das funktioniert ohnehin selten, seit einem Dreivierteljahr blockiert Italien aber vollständig. 10.000 Migranten sollten aus den Hauptankunftsstaaten, vor allem aus Italien, in möglichst viele aufnahmewillige Staaten ausgeflogen werden, 3.500 der Menschen nach Deutschland.

Die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni erklärte in einem TV-Interview am Mittwochabend, sie sei über diesen Schritt nicht verwundert. "Ich hatte damit gerechnet, denn wir haben unseren EU-Partnern schon vor einiger Zeit gesagt, dass wir die sogenannten Dublin-Überstellungen nicht mehr automatisch zurücknehmen können, weil unsere Hotspots voll sind", so Meloni.

Rettungseinheiten und Küstenwache "am Ende ihrer Kräfte"

Nach einer Periode, in der die Ankünfte von Migranten auf der Insel etwas nachließen, bildete sich vor der Mole des Hafens der Insel zeitweise eine Art Warteschlange von kleinen Metallbooten, die am Hafen anlegen wollten. 800 Migranten wurden vom italienischen Marineschiff Diciotti aufgegriffen. "Rettungseinheiten und die Mitglieder der Küstenwache sind am Ende ihrer Kräfte. Weitere Boote sind in Richtung Lampedusa unterwegs", meldeten italienische Medien am Mittwoch.

"Ich sage schon seit Wochen, dass es sich um ein epochales Phänomen handelt, mit Zahlen, die für unsere Insel nicht mehr tragbar sind", sagte der Bürgermeister von Lampedusa, Filippo Mannino. Er rief die Regierung von Premierministerin Meloni auf, das Heer einzusetzen, um die Migranten zu stoppen. "Unsere kleine Insel ist nicht mehr in der Lage, eine solche Migrantenwelle zu bewältigen, deren Ausmaß die Zahl der ansässigen Bevölkerung selbst übersteigt. Vor diesem Hintergrund ist es unmöglich, eine angemessene Hilfe für die Migranten zu gewährleisten, trotz immenser logistischer Anstrengungen", sagte der Bürgermeister. Er forderte die Regierung auf, mit Marineschiffen die Migrantenboote aufzufangen und sie direkt nach Sizilien oder aufs italienische Festland zu bringen. Auf der 20 Quadratkilometer großen Insel Lampedusa leben 6.300 Personen. Derzeit halten sich dort auch viele Touristen auf.

Salvini sieht "Kriegsakt"

Italien fühlt sich angesichts der wachsenden Migrationsströme im Stich gelassen. Der italienische Vizepremier und Verkehrsminister Matteo Salvini betrachtet die massive Migrationswelle in Richtung Lampedusa als "Kriegsakt" gegen Italien. "Wenn 120 Boote zur gleichen Zeit auf Lampedusa ankommen, ist dies kein einzelner Vorfall, sondern ein Kriegsakt. Das führt nicht nur Lampedusa, sondern die gesamte italienische Gesellschaft zum Zusammenbruch", sagte Salvini im Gespräch mit ausländischen Journalisten am Mittwoch. Die Regierung werde "keine Art der Intervention ausschließen", um den Migrationsstrom zu stoppen. "Wenn man alleingelassen wird, kann man nicht anders handeln", erklärte der Chef der rechten Regierungspartei Lega. Die Anlandungen seien "das Emblem eines Europas, das nicht da ist, abgelenkt und mitschuldig ist und Italien im Stich lässt".

Premierministerin Meloni habe alle diplomatischen Wege beschritten, um für Italien Hilfe zu bekommen. "Sie hat alle diplomatischen Wege versucht, aber wenn die Anlandungen in diesem Tempo weitergehen und wenn Frankreich und Deutschland uns den Rücken kehren, dann müssen wir selbst handeln", so Salvini.

Frankreich will Grenze stärker kontrollieren

Der französische Innenminister Gérald Darmanin kündigte am Dienstag eine Verstärkung der Polizei entlang der französisch-italienischen Grenze an, um die illegale Einreisen einzudämmen. "Wir haben einen 100-prozentigen Anstieg der Migrationsströme aus Italien festgestellt", sagte Darmanin vor Journalisten nach einem Besuch des Grenzpostens in Menton. Der Minister kündigte an, dass die Zahl der mobilen Einheiten von zwei auf vier erhöht werde, sie werden somit aus insgesamt mehr als 200 Personen bestehen.

Ebenso wird die Zahl der Soldaten, die im Rahmen der Operation Sentinel für nächtliche Patrouillen in den Bergen eingesetzt werden, von 60 auf 120 erhöht. Auch die Zahl der Zollbeamten solle ebenfalls verdoppelt werden, sagte der Innenminister. Die Ankündigung erfolgte, nachdem die französische Premierministerin Elisabeth Borne im April erklärt hatte, dass 150 zusätzliche Gendarmen und Polizisten an die Grenze entsandt würden, um auf die Verdoppelung der Zahl der an der italienischen Küste ankommenden Migranten und Flüchtlinge im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Jahr 2022 zu reagieren.

EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola betonte, dass die Lösungen für die Migrationskrise nicht auf nationaler, sondern nur auf europäischer Ebene liegen. "Es gibt keine andere Möglichkeit, als den Migrationspakt abzuschließen, die Bürger aller EU-Länder haben uns gebeten, Lösungen zu finden", so Metsola bei einem Pressetermin vor Beginn der Rede zur Lage der Union im Plenarsaal am Mittwoch in Straßburg.

Der italienische Außenminister Antonio Tajani betonte, die illegale Einwanderung sei ein europäisches Problem und müsse mithilfe aller EU-Staaten in Angriff genommen werden. "Die EU-Institutionen müssen Teil der Lösung sein. Wir müssen die Abkommen mit den Herkunftsländern der Migranten und der Transitländer beschleunigen", kommentierte Tajani auf Sozialnetzwerken. (APA, red, 14.9.2023)