Ion-Marcel Ciolacu (55), hier im Interview mit STANDARD-Korrespondentin Adelheid Wölfl, ist seit Juni Premier Rumäniens. Er studierte Politikwissenschaften und war Parlamentarier. Seit 2019 ist er Chef der Sozialdemokratischen Partei (PSD).
Foto: Luca Achim/Premiersamt

Rumänien ist durch den Krieg Russlands bedroht und gefordert. Der rumänische Premier Cialocu will, dass die EU überhaupt kein Gas mehr aus Russland bezieht. Gegen das österreichische Veto gegen den Schengen-Beitritt will er gerichtlich vorgehen. Das sagte er dem STANDARD beim Interview in Bukarest. Der Schaden, der Rumänien durch Österreichs Blockade entstehe, liege Berechnungen zufolge bei mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also bei mehreren Milliarden Euro.

Man könne nicht Sicherheit auf europäischen Ebene beanspruchen und "gleichzeitig Rumänien ein Grundrecht wie den Schengen-Beitritt verweigern", sagte Ciolacu. Dass Österreich an Russland "Blutgeld" zahle, wie es der Leiter der EU-Vertretung in Österreich, Martin Selmayr, kürzlich formulierte und damit Empörung auslöste, dem stimmt Ciolacu prinzipiell zu. Rumänien habe seine Lektion schon vor langer Zeit gelernt und sei deshalb unabhängig von russischem Gas.

STANDARD: Welche Strategie haben Sie, um den österreichischen Kanzler zu überzeugen, dass er das Veto gegen den Schengen-Beitritt aufgibt?

Ciolacu: Bundeskanzler Karl Nehammer hat uns erst einige Tage vor dem EU-Rat-Treffen darüber in Kenntnis gesetzt, dass er den Beitritt Rumäniens nicht unterstützen wird. Das hat in den Behörden und in der rumänischen Bevölkerung zu Frustration geführt.

Was ich auch nicht akzeptieren kann, ist die Erklärung, dass das Schengen-Veto mit dem Wahlkampf in Österreich zu tun hat. Spanien unterstützt nun als EU-Ratsvorsitzland den Beitritt Rumäniens zum Schengenraum und sorgt dafür, dass dieses Thema wieder auf die Tagesordnung kommt – entweder im Oktober oder am 4. oder 5. Dezember beim EU-Innenministerrat. Auch alle anderen Staaten – außer Österreich – unterstützen den Beitritt Rumäniens. Es stimmt auch nicht, was Nehammer sagt, nämlich dass über Rumänien eine erhöhte Migration erfolge. Wir haben zudem gemeinsame Grenzkontrollen mit Serbien eingeführt, damit wir dieses Thema vom Tisch bringen. Sollte aber Kanzler Nehammer trotzdem wieder ungerechtfertigterweise von seinem Vetorecht Gebrauch machen, muss ich als Premierminister die Entscheidung Österreichs beim Europäischen Gerichtshof anfechten, um Entschädigungen für die Verluste, die der Nichtbeitritt verursacht, einzufordern.

STANDARD: Wenn Nehammer wieder Nein sagt: Gehen Sie zum Europäischen Gerichtshof?

Ciolacu: Kategorisch, ja!

STANDARD: Wie teuer könnte eine erfolgreiche Klage für Österreich werden?

Ciolacu: Ausreichend! Unseren Berechnungen zufolge beläuft sich der Schaden auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Aber am schlimmsten ist die Tatsache, dass Österreich einen Präzedenzfall gesetzt hat. Denn normalerweise folgen die Mitgliedsstaaten den Empfehlungen der EU-Institutionen. Kroatien beantragte den Beitritt vor ungefähr vier, fünf Jahren. Rumänien und Bulgarien hätten den Beitritt blockieren können, aber das haben wir nicht gemacht.

STANDARD: Die Rechtspopulisten sind in ganz Europa im Aufstieg, auch in Rumänien. Werden Sie kommendes Jahr nach den Wahlen mit der rechtspopulistischen Partei AUR koalieren?

Ciolacu: Solange ich Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei bin, und auch 2024, werde ich mich persönlich für eine weitere Koalition mit der PNL aussprechen. Ich akzeptiere keine Allianz mit AUR. Kanzler Nehammer aber muss – genauso wie ich – verstehen und wissen, dass wir Politiker nur vorübergehend Positionen und Ämter bekleiden. Wir haben nun einen Aggressor in Europa, und deswegen wäre genau jetzt der wichtigste Augenblick gewesen, dass wir innerhalb der EU Solidarität aufweisen. Österreich ist genauso neutral wie die Republik Moldau. Man kann nicht Sicherheit auf europäischer Ebene beanspruchen und erwarten, dass man gemeinsam mit Rumänien und anderen EU-Staaten Teil des Projektes Sky Shield wird, also zusehen, wie Rumänien sich finanziell bemüht, die europäische Verteidigung zu stärken, aber gleichzeitig Rumänien ein Grundrecht wie den Schengen-Beitritt verweigern!

STANDARD: Wann können die EU-Verhandlungen für die Republik Moldau beginnen und wie stehen Sie zu einem Nato-Beitritt Moldaus?

Ciolacu: Im Bezug auf die Nato ist Moldau verfassungsrechtlich ein neutraler Staat. Aber die Ukraine und Moldau müssen dieses Jahr mit den EU-Beitritts-Verhandlungen beginnen. Gleichzeitig soll aber auch ein Zeichen für Nordmazedonien, Albanien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Serbien gesetzt werden. Sonst steigt in diesen Staaten die Frustration.

STANDARD: Kürzlich wurden zwei Teile von russischen Drohnen auf rumänischem Boden gefunden. Wie hat der Krieg Rumänien verändert?

Ciolacu: Eigentlich müssen wir über einen Krieg zwischen dem Diktator Wladimir Putin und einer souveränen und unabhängigen Demokratie sprechen. Der Diktator kann diesen Krieg nicht gewinnen! Wir müssen die Ukraine dabei unterstützen, ihr Getreide zu exportieren. Innerhalb des nächsten Monats werden wir versuchen, die Menge, die durch Rumänien transportiert wird, von zwei auf vier Millionen Tonnen zu steigern. Rumänien investierte deshalb viel in die Häfen an der Donau und Constanta. Die Attacken von russischen Drohnen auf Häfen in der Nähe von Rumänien sind ein klares Zeichen dafür, dass Russland nicht will, dass Rumänien diese Investitionen fortsetzt. Wir werden ein Drohnenwarnsystem für die Grenzgebiete einführen, sodass die rumänische Bevölkerung viel schneller und besser informiert wird. Auch die Nato ist involviert.

STANDARD: Russland profitiert und bringt Getreide nach Afrika. Der Getreidepreis ist in Europa stark gesunken. Wie soll man das ändern?

Ciolacu: Wir müssen über einen Mechanismus bei der EU-Kommission nachdenken, sodass Getreide aus der Ukraine prioritär angeboten wird, gerade für Länder in Afrika. Man könnte politisches Lobbying gerade in jenen Ländern durchführen, die aus Russland Getreide kaufen. Aber dafür müssen wir natürlich Alternativen bieten.

STANDARD: Die OMV Petrom beginnt mit der Gasexploration Neptun Deep im Schwarzen Meer. Was erwarten Sie davon? Österreich bezieht noch 55 Prozent seines Gases aus Russland.

Ciolacu: Gewisse Staaten haben Ausnahmen beantragt, wenn es um den Bezug von russischem Gas geht. Ich kann das aus wirtschaftlicher Sicht verstehen, aber aus meiner Sicht ist das ein Fehler. Rumänien hat seine Lektion schon vor langer Zeit gelernt und ist deshalb unabhängig von russischem Gas. Seit einer Woche ist auch die Republik Moldau unabhängig von russischem Gas. Es gibt also immer Lösungen auch für schwierige wirtschaftliche Probleme. Deshalb glaube ich, dass es richtig wäre, wenn wir den Verkauf von russischem Gas oder russischen Waren in die EU und in demokratische Staaten verbieten würden.

STANDARD: Komplett untersagen, sodass kein EU-Staat mehr russisches Gas kaufen kann?

Ciolacu: Ja, komplett untersagen! Denn es gibt einen sehr großen Unterschied zwischen dem, was wir verlieren, nämlich ein bisschen Komfort, und dem, was in der Ukraine vor sich geht. Man muss sich auch vor Augen halten, was eigentlich passieren würde, wenn die Russische Föderation gewinnen würde. Würden wir damit nicht eine Gelegenheit schaffen, dass solche Leute wie Putin sich in anderen Staaten in Europa vervielfältigen? Ich glaube, dass sich die EU auf eine vollständige Unabhängigkeit vom russischen Gas vorbereitet, auch wenn die Preise für Gas für eine gewisse Zeit höher sein werden.

STANDARD: Der Leiter der EU-Vertretung in Österreich, Martin Selmayr, sprach kürzlich von "Blutgeld", das mit jeder Gasrechnung aus Österreich an Diktator Putin geschickt würde, damit der seinen Krieg gegen die Ukraine führen kann.

Ciolacu: Das stimmt, was Herr Selmayr sagt. Wir können die Tatsache, dass die Preise in der EU gestiegen sind oder dass wir nicht mehr so oft Urlaub fahren können, nicht mit dem vergleichen, was sich jetzt in der Ukraine abspielt.

STANDARD: Rumänien hat ein großes Budgetdefizit und eine hohe Verschuldung. Die EU-Kommission hat jüngst ihren Vorschlag zur Budgetkonsolidierung zurückgewiesen. Die Kommission will in Rumänien nur noch zwei statt der drei Mehrwertsteuersätze. Wann werden Sie die Entscheidungen zur Budgetkonsolidierung treffen? Und wird die Ein-Prozent-Steuer für multinationale Firmen eingeführt?

Ciolacu: Ich werde noch diesen Monat vor das Parlament treten und die geplante steuerliche Konsolidierung erklären. Es geht darum, dass Ausnahmen aus der Abgabenverordnung verschwinden, nicht darum, neue Steuern einzuführen. Auch Steuerflucht soll bekämpft werden. Ich würde gern diese Steuerreform parallel zu den Reformen machen, die aufgrund des EU-Aufbau- und Resilienzplans geplant sind. Es geht dabei um Reformen, die auch durch Rumäniens Beitritt zur OECD notwendig sind. Die Ein-Prozent-Steuer für Unternehmen, die einen Umsatz von mehr als 50 Millionen Euro haben, stellt keine zusätzliche Steuer dar. Das wird bisher vom Steuersatz von 16 Prozent abgezogen. Mir geht es aber noch viel mehr, um die Versteuerung von außergewöhnlichen Einnahmen. Rumänien zahlt nämlich zurzeit höhere Zinsen, wenn es Kredite aufnimmt. Das hat auch damit zu tun, dass Rumänien die längste Grenze mit der Ukraine hat und Rumänien ein höheres Risiko trägt – als zum Beispiel Österreich. Deswegen haben auch die Banken im rumänischen Bankwesen die höchsten Gewinne in ganz Europa. Wir haben es gerade geschafft, die Inflation auf unter zehn Prozent zu bringen. Wenn wir jetzt aber die Mehrwertsteuer für Arznei- oder für Lebensmittel auf 19 Prozent erhöhen würden, dann würde die Inflation wieder steigen und das würde auch zu einem Sinken des Wohlstands führen.

STANDARD: … und dazu, dass viele Wähler von den Sozialdemokraten enttäuscht wären, wenn Sie dies machten.

Ciolacu: So sehr ich auch Sozialdemokrat bin, werde ich doch der erste Premier sein, der eine umfassende Verwaltungsreform durchsetzt. Das gesamte Maßnahmenpaket wird noch im September entschieden. Einige Maßnahmen werden ab dem 1. Oktober und andere ab dem 1. Jänner in Kraft treten.

STANDARD: Der ungarische Premier Viktor Orbán hat im Juli in Rumänien hegemoniale Ansprüche gegenüber den Nachbarstaaten gestellt. Serbien macht das mitunter auch. Wie soll Europa mit diesem Revisionismus umgehen?

Ciolacu: Ich glaube, dass ein neuer Konflikt auf europäischer Ebene genau das ist, was sich Wladimir Putin wünscht. Und ja, es gibt ein diesbezügliches Potenzial im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. Aber es wird nie einen Konflikt zwischen Ungarn und Rumänien bezüglich Siebenbürgens geben. Denn ich und Orbán wissen genau, dass Siebenbürgen zu Rumänien gehört und immer gehören wird. (Adelheid Wölfl, 14.9.2023)