Lampedusa, die kleine italienische Insel im Herzen des Mittelmeers, hat in Sachen Flucht- und Migrationsbewegungen schon so einiges erlebt. Doch was den 6500 Einwohnerinnen und Einwohnern in den letzten Tagen passierte, ist noch einmal eine andere Kategorie. Allein seit Montag wurden mehr als 9.000 Neuankömmlinge registriert. Am Freitag haben 700 Migranten Lampedusa Richtung Sizilien und Festland verlassen, weitere 2.500 Menschen sollen von der Insel gebracht worden sein. Doch ein Ende der Ankünfte ist nicht in Sicht.

Migranten in Lampedusa
Viele warten derzeit im Hafen von Lampedusa darauf, auf das italienische Festland gebracht zu werden.
EPA/CIRO FUSCO

Während in Rom die Alarmglocken schrillen, fällt ein besonderer Aspekt auf: Laut dem Migrationsexperten Matteo Villa sind 90 Prozent der in den vergangenen drei Monaten angekommenen Boote von Tunesien aus in See gestochen. Doch hat die EU nicht erst im Juli einen Deal mit Tunis geschlossen?

Mit großem Tamtam verkündeten Tunesiens Präsident Kais Saied, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihr niederländischer Amtskollege Mark Rutte am 16. Juli die Einigung auf eine Absichtserklärung, ein sogenanntes Memorandum of Understanding. Darin wurde vereinbart, irreguläre Migration unter Einhaltung der Menschenrechte einzudämmen und Schleppernetzwerke zu bekämpfen. Details dazu müssten noch ausgearbeitet werden, hieß es. Und das ist der springende Punkt, der zur aktuellen Situation führt.

Video: Aufnahmen der Nachrichtenagentur AFP zeigen, wie Menschen über die Zäune der Flüchtlingseinrichtung in Lampedusa klettern.
AFP

Skepsis in der EU

Denn das Memorandum ist weiterhin nicht in Kraft, da viele Punkte der Kooperation noch verhandelt werden. Hinzu kommt, dass die anfängliche Skepsis in der EU gegenüber dem Abkommen eher zu- als abgenommen hat. Beleg dafür ist eine hitzige Diskussion im Europaparlament am Dienstag.

Während Sozialdemokraten und Grüne menschenrechtliche Bedenken äußerten ("schmutziger Deal"), kritisierte EVP-Migrationssprecher Jeroen Lenaers: "Bis jetzt haben wir nicht viel Umsetzung gesehen. In Tunesien tut sich wenig." Dass kurz darauf EU-Abgeordneten die Einreise nach Tunesien verwehrt wurde, zeigt trotz Vereinbarung die großen Unstimmigkeiten.

Auch das Interesse Tunesiens an einer Umsetzung ist wohl überschaubar. Vereinbart wurden für heuer EU-Finanzhilfen in Höhe von 105 Millionen Euro zur Umsetzung der Migrationsmaßnahmen. Weitere 900 Millionen sind an die Bedingung geknüpft, dass Tunesien ein Finanzierungsprogramm mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) unterzeichnet. Dieses aber lehnt der autoritär regierende Präsident Saied strikt ab, denn dafür müsste er, der ohnehin schon unbeliebt ist, unpopuläre Wirtschaftsreformen im Land durchführen.

Geld aus anderen Ländern

Bleiben also 105 Millionen, die Tunesien realistischerweise in absehbarer Zeit von der EU erhalten könnte. In der Zwischenzeit hat Saied aber andere Geldgeber für das kriselnde Land gefunden. Saudi-Arabien etwa hat Tunis einen 500-Millionen-Kredit gewährt, ohne Bedingungen wie Brüssel zu stellen. Angesichts dieser Zahlen kann man davon ausgehen, dass Saied die Umsetzung des Memorandums nicht mit Nachdruck verfolgt.

Die Vereinbarung hat trotzdem einen kurzfristigen Effekt, allerdings einen ungewünschten. Vermutet wird, auch von der tunesischen Regierung, dass sich Migranten und Schlepper derzeit bemühen, so schnell wie möglich nach Europa zu gelangen bzw. so viele Überfahrten wie möglich zu organisieren, bevor der Deal umgesetzt wird. Auch das aktuell gute Wetter trägt seinen Teil zu den hohen Ankunftszahlen in Italien bei.

Nun könnte man davon ausgehen, dass die tunesischen Behörden dies vorhergesehen haben. Ist dem so, sind ihre Ressourcen, um dagegen vorzugehen, aber limitiert. Die Küstenwache ist unterbesetzt und überarbeitet, schließlich ist sie schon seit Monaten dabei, Überfahrten zu verhindern. Und auch der Faktor Korruption ist nicht zu unterschätzen. Schleppernetzwerke sind darin geübt, sich im Zweifelsfall die Wege freizukaufen.

Keine Unterstützung

Schließlich hat sich auch die Situation der Migrantinnen und Migranten in Tunesien nicht wesentlich verbessert. Die Behörden gehen weiterhin rigoros gegen sie vor, was ja auch der Grund für Bedenken in der EU ist. Zuletzt wurde dem Roten Halbmond untersagt, Migranten auf den Straßen der Hafenstadt Sfax mit Essen und Wasser zu versorgen. Sie wollen freilich so rasch wie möglich raus aus dem Land – und wagen deshalb die gefährliche Überfahrt nach Europa. (Kim Son Hoang, 15.9.2023)