Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Daniel Gros argumentiert im Gastkommentar, dass Chinas Gleichgewicht zwischen Ersparnissen und Investitionen eine größere Rolle für die übrige Welt spielt, als sein Wachstum.

Chinas anhaltender Konjunkturabschwung hat eine Vielzahl unterschiedlicher Erklärungen ausgelöst. Doch haben die Prognosen weitgehend eines gemeinsam: Während die kurzfristigen Daten relativ stark schwanken – die jährlichen Wachstumsraten wurden durch die Folgen der drakonischen Null-Covid-Politik der Behörden verzerrt –, gehen die meisten Beobachter davon aus, dass der Trend beim Wachstum des chinesischen Bruttoinlandprodukts (BIP) weiter nach unten zeigen wird. Der Internationale Währungsfonds etwa erwartet, dass das Wachstum 2024 lediglich 4,5 Prozent erreichen und bis Ende des Jahrzehnts auf drei Prozent sinken wird. Das ist mehr als in den meisten hoch entwickelten Volkswirtschaften, aber meilenweit entfernt von den zweistelligen Wachstumsraten von vor einem Jahrzehnt. Doch ist das Wachstum nur ein Teil der Geschichte.
Natürlich ist der Fokus darauf verständlich. Seit Jahrzehnten entfällt ein erheblicher Anteil des globalen BIP-Wachstums auf China. Und die Größe der chinesischen Volkswirtschaft wird erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Machtgleichgewichts mit seinem wichtigsten Rivalen, den USA, haben. Doch ist das Wachstum nicht der einzige und vermutlich nicht mal der wichtigste Kanal, über den die chinesische Wirtschaft die übrige Welt beeinflusst. Eine womöglich noch größere Rolle spielt das Gleichgewicht zwischen Ersparnissen und Investitionen.
Hohe Sparquoten
Ein charakteristisches Merkmal der chinesischen Volkswirtschaft sind ihre außerordentlich hohen Investitions- und Sparquoten, die 40 Prozent des BIP übersteigen. Dies ist doppelt so viel wie in der Europäischen Union und den USA und sogar mehr als in anderen asiatischen Ländern mit hohen Sparquoten wie Japan und Südkorea.
Die Investitionen – insbesondere in qualitativ hochwertige Infrastruktur – haben eine integrale Rolle dabei gespielt, Chinas hohes BIP-Wachstum aufrechtzuerhalten. Das Land hat in Rekordzeit das weltgrößte Hochgeschwindigkeitseisenbahnnetz errichtet. Selbst Mittelstädte haben heute S-Bahn-Linien, und Chinas zahlreiche glitzernde neue Flughäfen lassen die alternden Terminals in den USA und Europa schlecht aussehen.
Nur Geisterstädte
Doch hat Kenneth Rogoff zu Recht darauf hingewiesen, dass derartige Investitionen abnehmende Erträge generieren (siehe "Der Schulden-Superzyklus erreicht China", DER STANDARD, 28. 8.). Am besten lässt sich das anhand der Probleme des Bausektors illustrieren. Im vergangenen Jahrzehnt wurde in China so viel Wohnraum geschaffen, dass pro Person bereits etwa 40 Quadratmeter zur Verfügung stehen – etwa so viel wie in Deutschland oder Japan. Anders ausgedrückt: China hat den Kapitalstock eines entwickelten Landes aufgebaut und erfüllt faktisch die Wohnraumnachfrage, bevor es das entsprechende Einkommensniveau erreicht hat. Dies schränkt das Potenzial künftiger Investitionen, weitere Einkommenszuwächse zu befeuern, stark ein. Der Bau zusätzlicher Wohnungen würde lediglich weitere Geisterstädte hervorbringen – funkelnagelneu und leerstehend.
Natürlich dürfte Chinas Regierung in der Lage sein, neue Wege zur Unterstützung des Bausektors einzuschlagen, indem sie zum Beispiel Infrastrukturprojekte findet, denen man zumindest den Anschein verleihen kann, als wären sie sinnvoll – etwa in den ärmeren ländlichen Provinzen im Inland. Doch insgesamt dürften die Investitionen von nun an allmählich sinken.
Die Reaktion darauf könnte simpel ausfallen: Die Chinesen könnten mehr konsumieren. Doch man erinnere sich, dass Chinas Sparquote ebenfalls außerordentlich hoch ist – und das trotz der Bemühungen der Behörden während des letzten Jahrzehnts, den Binnenkonsum als Wachstumstreiber zu stärken. Eine deutliche Zunahme ist daher in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich.
Über den Konsum hinaus könnte China Ersparnisse in Investitionen in erneuerbare Energien wie Sonne und Wind lenken. Doch da sich derartige Investitionen bereits auf annähernd 300 Milliarden US-Dollar jährlich belaufen – viel mehr als in den USA oder Europa –, ist die Fähigkeit der erneuerbaren Energien zur Aufnahme chinesischer Ersparnisse begrenzt.
Falls die Sparquote auf gegenwärtigem Niveau (über 40 Prozent vom BIP) bleibt, aber die Investitionen auf 30 Prozent des BIP sinken – was noch immer eine sehr hohe Quote ist –, müsste China einen Leistungsbilanzüberschuss von zehn Prozentpunkten des BIP aufrechterhalten, um die Wirtschaft im Gleichgewicht zu halten. Da Chinas BIP in Kürze 20 Billionen US-Dollar erreichen dürfte, liefe das auf fast zwei Billionen US-Dollar hinaus. Das ist ein Mehrfaches der früheren Überschüsse Deutschlands oder Japans und genug, um das globale Gleichgewicht von Ersparnissen und Investitionen zu beeinflussen.
Eine internationale Folge von Chinas Ersparnisüberschuss – der Abwärtsdruck auf Zinsen – wäre relativ gutartig. Doch andere, größere Gefahren drohen: Hohe Leistungsbilanzüberschüsse Chinas würden den sich schon jetzt beschleunigenden Trend zum Schutz einheimischer Branchen vor der chinesischen Konkurrenz weiter anheizen.
Grüner Vorsprung
So muss es nicht kommen. Dank ihrer Investitionen in Technologien wie Batterien, Solarmodule und Elektrofahrzeuge sind Chinas Exporteure auf Kurs, einen immer größeren Vorsprung in kapitalintensiven grünen Branchen zu erreichen. Europa und die USA könnten preiswerte grüne Importe als Mittel zur Senkung der Kosten ihrer eigenen Klimaschutzmaßnahmen begrüßen. Doch scheint dies im heutigen Klima geopolitischer Konfrontation unwahrscheinlich. Stattdessen können wir uns auf weitere protektionistische Maßnahmen einstellen, die die Kosten in die Höhe treiben und nichts tun werden, um die chinesischen Ersparnisse abzubauen. (Daniel Gros, 18.9.2023)