In Derna wurden durch die Flutkatastrophe ganze Stadtviertel ins Meer gespült.
AFP/KARIM SAHIB

Die Bilanz der Überschwemmungen im Nordosten Libyens ist eine Woche danach verheerend: mittlerweile mehr als 11.300 bestätigte Tote, aber noch ebenso viele Vermisste allein in der Stadt Derna. In der besonders betroffenen Stadt waren vergangene Woche zwei Dämme gebrochen, ganze Viertel wurden ins Meer gespült. Mehr als 40.000 Menschen haben nach Schätzungen der UN-Organisation für Migration (IOM) ihre Bleibe verloren, wobei in vielen der schwer getroffenen Gebiete noch gar keine Zählungen möglich waren.

Proteste

Hunderte Menschen haben am Montag in Derna für die Absetzung des Gemeinderats und eine Vereinigung Libyens protestiert. Der libysche TV-Sender Al-Masar zeigte Aufnahmen, in denen die Demonstrierenden forderten, dass die Verantwortlichen der Katastrophe zur Rechenschaft gezogen würden.

Nach Aussagen von Augenzeugen sollen Demonstranten am Abend auch probiert haben, das Haus des zur Zeit suspendierten Bürgermeisters Abdel-Moneim al-Gheithy in Brand zu setzen. Den Behörden wird vorgeworfen, die Dämme nicht ordnungsgemäß in Stand gehalten und somit zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen zu haben.

Hunderte demonstrierten am Montag in Derna.
Hunderte demonstrierten am Montag in Derna.
EPA/STR

Der Student Said Mansour forderte, dass untersucht werden müsse, warum die Dämme zusammengebrochen seien. Denn dadurch hätten "wir Tausende unserer geliebten Menschen verloren". Der 39-jährige Taha Miftah sagte, der Protest sei eine Botschaft, dass "die Regierungen bei der Bewältigung der Krise versagt haben", wobei er dem Parlament eine besondere Schuld zuschrieb. Er verlangte eine internationale Untersuchung der Katastrophe und "einen Wiederaufbau unter internationaler Aufsicht".

Der libysche Staatsanwalt Al-Sedik al-Sur hat wegen der Dammbrüche Ermittlungen aufgenommen. Die Dämme sollen Risse gehabt haben, und es soll Geld für die Instandhaltung bereitgestellt worden sein. Der Staatsanwalt will den Verbleib der Gelder nun klären. Dernas Bürgermeister Al-Gheithy wurde außerdem vorerst von seinem Amt suspendiert.

Warnung vor einer sich "rasch ausweitenden Gesundheitskrise"

Die Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) warnte am Montag nun eindringlich vor einer sich "rasch ausweitenden Gesundheitskrise". "Die jüngsten Überschwemmungen haben die Wasserquellen stark mit Abwasser verunreinigt, sodass sie für den Verzehr nicht mehr geeignet sind und die Bevölkerung schwerwiegenden Gesundheitsrisiken ausgesetzt ist", hieß es in einer Erklärung. Tausende Menschen hätten keinen Zugang zu sauberem und sicherem Trinkwasser.

Video: Tausende Tote und Vermisste, gewaltige Zerstörungen und keine funktionierende Trinkwasserversorgung - eine Woche nach der Überflutung von Derna ist die Lage in der libyschen Küstenstadt weiterhin katastrophal
AFP

Besonders Frauen und Kinder seien einem erhöhten Risiko ausgesetzt, warnte die Hilfsorganisation. Meldungen über Durchfallerkrankungen nahmen zuletzt zu, in Derna sind bereits mindestens 55 Kinder infolge des verschmutzten Wassers erkrankt. Hilfsorganisationen warnten vergangene Woche auch vor einem möglichen Cholera-Ausbruch.

Behörden riefen die Bevölkerung schon vor Tagen dazu auf, sich dem Brunnen in Derna nicht zu nähern. Das Grundwasser sei zum Teil mit Leichen, Tierkadavern, Müll und chemischen Substanzen verschmutzt. Viele stehen vor einem Dilemma: entweder trotz Wassermangels und eines Risikos für Erkrankungen an Ort und Stelle bleiben oder durch Gebiete fliehen, in denen zahlreiche Landminen von den Fluten verlegt worden sind.

Prekäre Lage bei zwei Dämmen

Und weitere Gefahren scheinen noch nicht gebannt: Das UN-Nothilfebüro (Ocha) äußerte am Sonntag seine Besorgnis über zwei weitere Dämme, hinter denen sich große Wassermengen stauen sollen. Dabei geht es um den Jaza-Damm zwischen Derna und Benghazi und den Qattara-Damm nahe Benghazi. Behörden in Libyen betonen, dass sich beide Dämme in gutem Zustand befänden und funktionierten. Am Jaza-Damm würden den Angaben zufolge Pumpen installiert, um Druck von der Staumauer zu nehmen.

Die Berichte über die Lage sind nicht nur in diesem Fall widersprüchlich, in Libyen herrscht politisches Chaos. Seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi 2011 konnte das Land keine stabile Zentralregierung aufbauen. Die international anerkannte Regierung hat ihren Sitz im westlibyschen Tripolis, während im Osten ein Parallelkabinett tätig ist, das allerdings nicht wirklich Einfluss hat. Jahrelang wurde nicht ausreichend in Infrastruktur investiert, was die Auswirkungen der Flutkatastrophe noch verheerender macht.

Auch die Zerstörung von Straßen und Brücken durch die Überschwemmungen erschwert es den Hilfsorganisationen, in die betroffenen Städte wie Derna, Al Bayada und andere ländliche Gemeinden zu gelangen. Libysche Aktivisten berichteten der Deutschen Presse-Agentur, dass der Stadtrat von Al Bayada beschlossen habe, einige sandige Straßen zu reparieren, die in abgelegene Gebiete führen, die von den schweren Überschwemmungen betroffen sind. Zudem transportiere die Gemeinde Hilfsgüter mithilfe eines ägyptischen Hubschraubers.

Schwimmendes Krankenhaus

Ägypten hat mittlerweile auch einen Flugzeugträger zur medizinischen Versorgung von Opfern nach Libyen geschickt. Der Flugzeugträger Mistral traf am Sonntag ein und soll die Einsatzkräfte als schwimmendes Krankenhaus unterstützen. Das Schiff verfügt über eine 900 Quadratmeter große Klinik samt moderner Operationssäle. Das Welternährungsprogramm (WFP) bereitet Nahrungsmittellieferungen vor, um 100.000 Menschen im Katastrophengebiet für mindestens drei Monate zu unterstützen.

Weitere Tote wurden im Katastrophengebiet zuletzt nach einem Autounfall gemeldet: Ein Kleinbus mit 19 griechischen Nothelfern sei mit dem Auto einer fünfköpfigen libyschen Familie zusammengestoßen, berichtete Othman Abdel Jalil, der Gesundheitsminister der libyschen Behörden im Ostteil des Landes. Demnach kamen vier Mitglieder des griechischen Rettungsteams und drei Angehörige der libyschen Familie ums Leben. Insgesamt seien 15 Menschen teils schwer verletzt worden. (maa, APA, red, 18.9.2023)