Der Menschenfeind Landestheater Niederösterreich
Tratsch und Klatsch gab es auch schon 1666: Acaste (Tobias Voigt), Célimène (Caroline Baas) und Clitandre (Julian Tzschentke) nehmen daran gerne teil.
Franzi Kreis

"Hast du ihr Gesicht gesehen? Und erst die Haare? Ja, und der glaubt, er sei jetzt Dichter! Grässliche Sonette, die taugen nur als Einschlafhilfe!" So weit, so bekannt ist das Geläster, das im Paris des 17. Jahrhunderts aus den Salons der Reichen und Adeligen tönt. Alle machen mit, doch blickt einem die betroffene Person direkt ins Gesicht, will niemand je etwas gesagt haben. Niemand außer Alceste: Der missmutige Misanthrop lebt nach eigenen Angaben ohne jene Heuchelei, die er selbst zutiefst verabscheut, und fordert das auch von seinen Mitmenschen ein. Doch der stete Grant hat seinen Preis: Gerichtsprozesse, Kontrahenten und die Damenwelt machen ihm das Leben schwer.

Als Der Menschenfeind von Molière 1666 uraufgeführt wird, schickt sich die aufrichtige Direktheit in Adelskreisen nicht. Aalglattes Umschiffen unliebsamer Tatsachen gehören zur guten Etikette – dem Dramatiker Molière soll das zutiefst zuwider gewesen sein. Der Menschenfeind gilt als sein am meisten autobiografisch geprägtes Stück, mit dem er, so sagt man, seine Abneigung gegenüber den Gepflogenheiten zu Hofe deutlich machte. Im Landestheater Niederösterreich wird aus der kritischen Komödie eine rasante Achterbahnfahrt, die beweist, dass der Stoff auch knapp 360 Jahre später noch zeitlos daherkommt. Man eröffnet damit in die neue Spielsaison.

Bissig und absurd

Inszeniert wurde das Stück von Dominic Oley, der mit bissigen, humoristischen Stücken gerne an den Grenzen der Absurdität kratzt: Mit seiner Produktion Flaneur of Fear hat der regieführende Schauspieler 2010 den Newcomer-Wettbewerb des Theaters Drachengasse Wien gewonnen. Es folgten weitere Inszenierungen, Der große Diktator feierte im vergangenen Jahr in der Josefstadt Premiere. In St. Pölten wird nun eine bunte, ausufernde, und doch höchst präzisierte Molière-Show geboten, bei deren Tempo man am liebsten 90 Minuten lang die Luft anhalten möchte.

Der Menschenfeind Landestheater Niederösterreich
Alcaste (Julia Kreusch) steht seinen Mitmenschen stets misstrauisch gegenüber.
Franzi Kreis

Julia Kreusch spielt den scharfzüngigen Alceste mit einem tiefen Stirnrunzeln. Eine Menschenfeindin also? Nein, an der Geschlechtsidentität des Protagonisten ändert sich nichts. Und auch sonst bleibt der Stoff weitgehend unverändert, obwohl er sich hervorragend in die Schickimicki-Gesellschaft des 21. Jahrhunderts übertragen ließe. Die junge Célimène (Caroline Baas) ist sich zwar der Doppelzüngigkeit der feinen Leute bewusst, schließt sich davon aber selbst nicht aus – sehr zum Missfallen Alcestes. Das Highlight des Abends ist Julian Tzschentke, der sich als humoriger Verwandlungskünstler beweist, etwa in der Rolle des schmierigen Dichters Orante oder der des exzentrischen Kompagnons Clitandre. Bettina Kerl und Tobias Voigt spielen beide eine männliche sowie weibliche Doppelrolle – das führt zu originellen Kostümwechseln, bei denen die Perücke schon einmal verrutschen kann.

Spektakel für die Sinne

Kostüm (Nicole von Graevenitz) und Bühne (Michael Köpke) glitzern, glänzen und knallen, sie könnten aus dem legendären New Yorker Studio 54 stammen. Das passt hervorragend zu der energiegeladenen Inszenierung Oleys, die sich als wahres Spektakel für die Sinne präsentiert. Unter all dem Pomp und Glamour hebt sich Alceste im schlichten, schwarzen Frack durch schnörkellose Nüchternheit ab; am Ende ist er das Getratsche so leid, dass er die Stadt verlässt. Das Publikum hat davon aber offensichtlich noch nicht genug und belohnt mit tosendem Applaus. (Caroline Schluge, 18.9.2023)