SEG Electronic Market
Alles ist bunt, grell, laut und chaotisch. In einem kleinen Geschäft schrauben junge Frauen Gaming-PCs zusammen, während nebenan gebrauchte Computerprozessoren um kleines Geld angeboten werden.
STANDARD/Peter Zellinger

Frau Chen wird langsam ein wenig ungehalten. Seit einer guten halben Stunde wird ihr Stand von Besuchern aus Europa belagert. Die Österreicher wollen dieses und jenes sehen, da ein Knöpfchen drücken, ihr Handy mit allen möglichen Geräten per Bluetooth verbinden, und dann versuchen sie auch noch den Preis auf ein unverschämt niedriges Niveau zu drücken. Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass Frau Chen viel härtere Verhandlungen gewöhnt ist und sie die grantige Geschäftsfrau nur spielt. Die Empörung über die frechen Gegenangebote der Gäste aus dem Westen gehört zur Verhandlungstaktik dazu.

Nicht dass die Europäer lukrativere Kundschaft vom Stand fernhalten würden. Kurz nach zehn Uhr erwacht der gigantische SEG Electronic Market im Stadtteil Futian erst zum Leben. Müde Händlerinnen und Händler brühen sich Tee auf, während andere gerade dabei sind, ihre Stände für den Arbeitstag zu dekorieren. Die Kundschaft hat sich kaum noch in das zehnstöckige Gebäude verirrt, es wird aber nicht mehr lange so ruhig bleiben, wie der Reiseführer versichert.

Frau Chen ist nur eine von rund 10.000 Geschäftsfrauen und -männern, die das Herz des Geschäftsviertels Huaqiangbei zum Schlagen bringen. Eine halbe Million Menschen ist hier täglich unterwegs, um mit elektronischen Artikeln zu handeln, im Großen wie im Kleinen. Allein im SEG Electronic Market befinden sich mehr als 3.000 Shops mit über 15.000 Angestellten. Ein eigener Wolkenkratzer gehört ebenso dazu wie eine mehrstöckige Tiefgarage.

SEG Electronic Market
Am Flughafen wird man von einem Roboter begrüßt, der einen Gesichts-Scan anbietet. Nach erfolgreichem Scan druckt er freundlicherweise die passende Bordkarte aus.
STANDARD/Peter Zellinger

Ein Charme wie in "Cyberpunk"

Der größte Elektronikmarkt der Welt könnte leicht als prototypische Blaupause für populäre Sci-Fi-Erzählungen wie "Blade Runner" oder "Cyberpunk" durchgehen. Alles ist bunt, grell, laut und chaotisch. In einem kleinen Geschäft schrauben junge Frauen Gaming-PCs zusammen, während nebenan gebrauchte Computerprozessoren um kleines Geld angeboten werden.

Auf den 56.000 Quadratmetern Handelsfläche wird von Mainboards über Prozessoren bis zu Bildschirmen und Fernsehern alles angeboten, was das Technikherz begehrt. Die Stockwerke sind grob thematisch sortiert: Während man in den unteren Bereichen elektronische Geräte für den Endverbraucher bekommt, wird das Angebot nach oben hin immer spezieller. Gaming-Hardware wie Grafikkarten findet man so am besten im siebten Stockwerk.

Die Gäste aus dem Westen haben eine tragbare Spielkonsole erspäht, die sie unbedingt haben wollen. Auf dem Gameboy-ähnlichen Gerät läuft das erste "Super Mario", da schmelzen die Herzen der Nerds. 75 Yuan will die Händlerin dafür haben, umgerechnet zehn Euro. Mit der Kreditkarte kann man nicht bezahlen, aber zur Not nimmt Frau Chen auch gerne Euro. Bevor unpraktisch mit Wechselgeld hantiert wird, legt die Händlerin noch ein paar Airpods Pro dazu, damit sich mit 30 Euro eine schöne runde Zahl ausgeht.

Natürlich handle es sich um Originalware, alles andere zu behaupten wäre eine Beleidigung. Schließlich ist auch das Apple-Logo prominent auf die Schachtel gedruckt, versichert die Händlerin. Und tatsächlich vermögen die gefälschten Produkte sogar die iPhones ihrer neuen Besitzer zu täuschen. Die Airpods Max um umgerechnet 50 Euro werden von der Software des Smartphones tatsächlich als solche erkannt.

SEG Electronic Market
Betritt man ein Geschäft, ist die erste Frage, ob man als Großhändler oder Privatkunde hier ist.
STANDARD/Peter Zellinger

Gaming und Basteln

Den SEG Electronic Market aber als Hort der Produktpiraterie und Fälscher abzutun wäre ungerecht – ebenso wie die Annahme, der größte Elektronikmarkt der Welt sei nur die Offline-Variante von Aliexpress oder Temu. Neben den kleinen Ständen mit der üblichen Billigelektronik sind auch die großen der Tech-Branche längst hier vertreten: IBM, Acer, Asus, Philips, Lenovo und viele andere haben hier offizielle Stores.

Möglich ist hier vieles: Die Händlerinnen und Händler haben ein Netzwerk untereinander aufgebaut. Sucht man ein besonders exotisches Bauteil, wird zum Hörer gegriffen. Zwei, manchmal drei Telefonate später ist die Chance groß, dass tatsächlich irgendjemand in diesem gigantischen Warenhaus den gewünschten Artikel findet. Mit dieser Form des Kundenservices können Alibaba und Co nicht mithalten.

Vor allem das Geschäft mit Grafikkarten dürfte lukrativ sein, und selbst weltweit schwer erhältliche Spitzenmodelle findet man hier. Betritt man ein Geschäft, ist die erste Frage, ob man als Großhändler oder Privatkunde hier ist. Schnell wird klar, warum die meiste Originalhardware eher der Kategorie untere Mittelklasse angehört: Gaming-PCs verkaufen sich eben besser, wenn der Preis niedrig ist, für die Händler sind große Absatzzahlen interessant.

Alles geht irgendwie

Relais, Schalter, Schrauben, Akkus – streift man durch die Stände, wird schnell klar: Wer geschickt genug ist, könnte sich hier wohl alle Komponenten für ein selbst gebautes Smartphone organisieren. Tatsächlich lohnt sich ein Blick in die abgelegenen Gänge, oft sind hier die Bastler, Tüftler und Techniker am Werk, die beim Projekt der Eigenbau-Drohne gerne aushelfen. Der Tausch eines Stromsteckers für den kurz davor gekauften Föhn ist da nicht einmal um zehn Uhr vormittags eine Aufwärmübung. Ein junger Bastler an der Straßenecke repariert das gesprungene Handydisplay innerhalb einer Stunde für umgerechnet zwölf Euro.

Als Frau Chen endlich ihre Ruhe von den Gästen hat, fällt diesen aber auch die Schattenseite der Tech-Metropole Shenzhen auf. Selbst im Chaos des Elektronikmarktes wird jeder Schritt überwacht, keine Ecke bleibt von den Kameras unbeobachtet. Die Ränder der ausladenden Fußgängerzone in Huaqiangbei sind voll mit riesigen Masten mit Überwachungskameras und Funkantennen.

SEG Electronic Market
Rund 10.000 Menschen arbeiten in dem Marktviertel, Produkte von mehr oder weniger guten Qualität gibt es unzählige.
STANDARD/Peter Zellinger

Lückenlose Überwachung

Kein Wunder: Der chinesische Staat sammelt so viele biometrische Details seiner Bürgerinnen und Bürger sowie der Besucher wie nur irgendwie möglich. Ohne ein Foto für die Gesichtserkennung gemacht zu haben, ist die Einreise von Hongkong ins nahe Shenzhen gar nicht erst möglich. Laut einer Recherche der "New York Times" steht jede zweite Überwachungskamera in China. Deren System arbeitet KI-gestützt und erkennt in Millisekunden die Gesichter der Menschen, eine lückenlose Überwachung wird so erst möglich.

Einkaufsdaten, Zahlungsverhalten, selbst der Konsum von Videogames wird überwacht. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die chinesische Alles-App Wechat, in der sich von der Verwaltung des eigenen Bankkontos über das Chatprogramm bis hin zum Lieferdienst das digitale Leben vieler Chinesinnen und Chinesen abspielt. Im Westen populäre Dienste wie Whatsapp, Signal oder Services wie Spotify sind in China so gut wie unbekannt.

Am Flughafen Shenzhen entdeckt die Reisegruppe aus Österreich einen kleinen Roboter in einer der endlos langen Gänge zum Gate. Die Gestalt aus weißem Plastik entpuppt sich als Orientierungshelfer für vom Weg abgekommene Flugreisende. Eine Flugnummer oder ein Gate muss aber gar nicht erst eingegeben werden. Ein Blick in die Kamera genügt, der Roboter erkennt den Gast und spuckt sofort eine Kopie des Boardingpasses aus, nach nur einem Blick auf das Display. Es wäre nicht verwunderlich, würden die Komponenten dafür aus dem SEG Electronic Market stammen. (Peter Zellinger aus Shenzhen, 22.9.2023)