Die Abschaffung der kalten Progression war ohne Zweifel ein harter Brocken, an dem sich viele andere Regierungen die Zähne ausgebissen haben. Die türkis-grüne Koalition hat mit 1. Jänner 2023 die automatischen schleichenden Steuererhöhungen abgeschafft. Zum zweiten Mal werden im kommenden Jahr die Tarifstufen in der Einkommensteuer an die Inflation angepasst werden. Die Eckdaten sind bekannt: Zwei Drittel der Anpassung erfolgen automatisch, das letzte Drittel wird von der Koalition verteilt.

Seitens der Regierung gaben Kanzler Karl Nehammer, Finanzminister Magnus Brunner (beide ÖVP) und Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) vergangenen Freitag bekannt, wie man das letzte Drittel, immerhin fast 1,2 Milliarden Euro, nutzen wolle. In zahlreichen Schlagzeilen war danach die Rede davon, die Koalition entlaste "kleine und mittlere Einkommen", die Regierung hatte das in einer Presseerklärung entsprechend verbreiten lassen. Minister Rauch sprach sogar von einem "sozialen Drittel", das hier ausgegeben werden, Brunner betonte die Entlastung der Mittelschicht.

Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne), Bundeskanzler Karl Nehammer und Finanzminister Magnus Brunner (beide ÖVP) präsentierten die letzten Details zum Ausgleich der kalten Progression.
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Davon zu sprechen, dass hier "kleine und mittlere Einkommen" entlastet werden, ist jedoch irreführend. Tatsächlich werden alle Einkommen entlastet, niedrige, mittlere und hohe. Letztere in absoluten Zahlen sogar stärker. Das liegt nicht am Unwillen der Regierung, sondern am progressiven Einkommensteuersystem.

Video: Kalte Progression - Niedere und mittlere Einkommen werden entlastet
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In Österreich gilt der Grundsatz, wonach Besserverdiener auch mehr Steuern zahlen sollen. In der Praxis funktioniert das mit Tarifstufen. In jeder dieser Stufen gilt für das Einkommen, das hineinfällt, ein unterschiedlicher Steuersatz. Bis zu 11.693 Euro im Jahr fällt heuer gar keine Steuer an. Für jeden Euro, der mehr verdient wird, gilt die Steuerstufe zwei, die bei 20 Prozent liegt. Dieser Grenzsteuersatz, wie Experten sagen, gilt für den Einkommensteil zwischen 11.693 und 19.134 Euro. Darüber fallen 30 Prozent an, und zwar bis 32.075 Euro. In der vierten Steuerstufe sind es aktuell 41 Prozent, ab kommendem Jahr 40 Prozent, die für den Einkommensteil zwischen 32.075 und 62.080 Euro relevant sind.

Die Regierung hat angekündigt, mit dem letzten Drittel der Abgeltung der kalten Progression die ersten vier Steuerstufen anzuheben. Einkommensteuerfrei bleibt künftig ein Betrag von bis 12.816 Euro. Erst darüber fallen dann die 20 Prozent an. Auch die anderen drei Grenzen steigen entsprechend. Wer profitiert davon?

Die Antwort: alle, die Steuern zahlen. Wenn Person A 30.000 Euro verdient, profitiert sie davon, dass die Steuerstufen eins und zwei steigen. Wenn Person B viermal mehr verdient, 120.000 Euro, profitiert sie aber auch, nämlich mit jenem Einkommensteil, der in die unteren vier Steuerstufen fällt. Ihre Entlastung ist sogar stärker als jene von Person A. Auch der Millionär wird entlastet, und zwar bei jenem Betrag seines Einkommens, der in die unteren Steuerstufen fällt.

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Wenn unteren Steuerstufen gesenkt werden, profitieren davon alle, weil alle auf einen Teil ihres Einkommens diesen niedrigen Steuersatz bezahlen. "Bei hohen Einkommen ist die Entlastungswirkung mindestens so hoch wie bei niedrigen Einkommen, wenn nicht höher", sagt der Steuerexperte Peter Brandner von der Initiative Weis(s)e Wirtschaft. In Relation zu den Einkommen ist die Entlastung bei kleineren Einkommen größer, in absoluten Beträgen – und die entscheiden letztlich, was wir uns leisten können oder nicht – ist das aber nicht der Fall.

Das arbeitnehmernahe Momentum-Institut hat ausgerechnet, welche Einkommensgruppen sich wie viel ersparen, und die Beschäftigten dafür in fünf Gruppen unterteilt. Diese Analyse bezieht die gesamte Rückverteilung der kalten Progression mit ein. Es zeigt, dass das einkommensschwächste Fünftel sich 156 Euro spart. Beim einkommensstärksten sind es 960 Euro. Das ergibt sich einfach aus der Rückverteilung einer progressiven Steuerlast, ist also kein Versagen der Politik und sollte auch nicht so beschrieben werden.

Laut einer Analyse der Ökonomin Margit Schratzenstaller werden insgesamt von den knapp 1,2 Milliarden Euro 632 Millionen dafür verwendet, die vier Steuerstufen anzuheben. Ein weiterer großer Teil, 175 Millionen Euro, fließt in die volle Anpassung der Absetzbeträge an die Inflation. Hier werden auch kleinere Einkommensbezieher mitgenommen.

Die Abschaffung der kalten Progression hilft allen Einkommensstufen.
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So gibt es in Österreich eine große Gruppe an Menschen, die keine Einkommensteuer zahlen, weil sie so wenig verdienen. Das sind immerhin 34 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Auch sie werden profitieren: Diese Personen erhalten im Regelfall eine "Negativsteuer", sie bekommen also im Zuge ihres Steuerausgleichs einen Betrag zurück, der sich nach bezahlten Sozialversicherungsleistungen richtet. Dabei gibt es einen Höchstbeitrag, der rückerstattet werden kann, diese Beiträge werden mit der vollen Inflation angepasst.

Eine sozialpolitische Schwerpunktsetzung, die klar zu erkennen ist, betrifft Familien, in denen wenig verdient wird: Diese Gruppe erhält den Kindermehrbetrag, der im kommenden Jahr von 550 auf 700 Euro steigt. Das ist ein Plus von fast 30 Prozent und liegt deutlich über der Inflationsgrenze. (András Szigetvari, 20.9.2023)