Studiert man die Geschichte des Nationalsozialismus, könnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass der Holocaust eine reine Männerangelegenheit war. Ernst Klees über 700 Seiten starkes "Personenlexikon zum Dritten Reich", das Standardwerk zum Thema, enthält 4.300 Kurzbiografien der Beteiligten, von denen weniger als 100 Frauen betreffen. Erst auf Seite 73 wird in diesem Buch die erste Frau genannt. Ihr Name ist Hermine Braunsteiner, die 1919 in Wien geboren wurde.

Hermine Braunsteiner, Stute von Majdanek
Hermine Braunsteiner in Uniform. Sie tötete im KZ sadistisch Menschen, indem sie mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln auf ihnen herumtrampelte. Das trug ihr den Beinamen "Stute von Majdanek" ein.
Majdanek Museum / Wikimedia / gemeinfrei

Braunsteiner erhielt in ihrer Geburtsstadt eine streng katholische Erziehung und wollte zunächst Krankenschwester werden. Aus diesen Plänen wurde jedoch nichts. Stattdessen arbeitete sie in verschiedenen Berufen in Holland und England, bevor sie in Berlin eine Anstellung fand. Dort wohnte sie bei einem Beamten, der sie vom Nationalsozialismus überzeugte. Braunsteiner trat also 1937 in die NSDAP ein.

Im Jahr 1939 bewarb sie sich im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Das war das einzige KZ ausschließlich für Frauen und Kinder und war 1938 auf Befehl von Heinrich Himmler erbaut worden. Himmler besuchte es regelmäßig, wohl nicht zuletzt, weil seine Geliebte, Hedwig Potthast, mit der er zwei Kinder hatte, ganz in der Nähe wohnte. Insgesamt waren etwa 130.000 Menschen in Ravensbrück inhaftiert, von denen dort etwa 50.000 elend zugrunde gingen.

Sadistische Pflichterfüllung

Ihre oft sadistisch beflissene Pflichterfüllung ermöglichte Hermine Braunsteiner einen schnellen Aufstieg in der KZ-Hierarchie. 1941 wurde sie Leiterin der Kleiderkammer in Ravensbrück. Nach einer Auseinandersetzung mit der Oberaufseherin Maria Mandel (1948 zum Tode verurteilt) wurde Braunsteiner in die Frauenabteilung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Lublin-Majdanek versetzt. Hier wurden zwischen 1941 und 1944 rund 78.000 Menschen umgebracht.

Braunsteiner schlug die Gefangenen oft mit der Reitpeitsche, setzte manchmal Hunde ein, hat Babys totgetreten und Frauen ausgepeitscht. Sie beteiligte sich auch an der Auswahl der Häftlinge, die in die Gaskammern geschickt werden sollten. "Wie Schlachtvieh" soll sie Kinder im Lager gepackt und auf die Lastwagen zum Abtransport in die Gaskammer geworfen haben (Hermines Vater war Metzger). Sie wurde zur SS-Oberaufseherin befördert, einer der ranghöchsten weiblichen Offiziere des NS-Regimes.

"Stute von Majdanek"
14-minütige polnische Dokumentation über Braunsteiner mit englischen Untertiteln.
Okupowana Polska

1943 erhielt sie wegen ihrer besonderen "Leistungen" das Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse. 1944 wurde sie zurück nach Ravensbrück beordert, um dort ein Arbeitskommando zu leiten, ehe man sie als Leiterin in das Nebenlager Genthin versetzte. Bevor die sowjetischen Soldaten das Lager am 23. Juli 1944 befreiten, setzte sich Braunsteiner ab und floh in ihre Heimatstadt Wien.

Vorzeitige Haftentlassung

Dort wurde sie nach der Befreiung 1945 verhaftet und den alliierten Behörden übergeben, die sie zwischen verschiedenen Lagern hin und her schoben. 1949 wurde sie "Landesgericht für Strafsachen in Wien als Volksgericht" wegen Mordes, Kindermordes und Totschlags in Ravensbrück verurteilt. Majdanek fand in diesem Prozess kaum Erwähnung. Braunsteiner wurde mit drei Jahren Gefängnis bestraft, kam aber bereits 1950 vorzeitig wieder frei.

Danach arbeitete sie in österreichischen Hotels und Restaurants und lernte den US-Amerikaner Russell Ryan kennen. 1958 zogen beide nach Nova Scotia in Kanada und heirateten im Oktober desselben Jahres. Kurze Zeit später übersiedelten sie nach New York, und im Jänner 1963 wurde Hermine US-amerikanische Staatsbürgerin. Nun hätte sie den Rest ihres Lebens ungestört als New Yorker Hausfrau verbringen können, hätte es der Zufall nicht anders gewollt.

Im Jänner 1964 wurde Simon Wiesenthal in Tel Aviv von drei Überlebenden aus Majdanek angesprochen, wie er in seinem Buch "Recht, nicht Rache" berichtete. Sie erzählten ihm von einer besonders grausamen Aufseherin, die ihnen als "Stute von Majdanek" bekannt war, weil sie ihre Opfer mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln trat. Es handelte sich um niemand anderen als Hermine Braunsteiner. Wiesenthal fand rasch heraus, dass Braunsteiner lediglich für ihre Untaten in Ravensbrück, aber nicht für die in Majdanek verurteilt worden war.

Erste NS-Auslieferung aus den USA

Wiesenthal und der US-Journalist Joseph Lelyveld spürten Braunsteiner schließlich in New York auf, wo sie inzwischen unter dem Namen Hermine Ryan lebte. Am 14. Juli 1964 schrieb Lelyveld, dass Frau Ryan bereitwillig zugab, Hermine Braunsteiner aus Majdanek zu sein. Sie beteuerte, dass sie für ihre Vergehen bereits in Österreich bestraft worden sei. Ihr Ehemann zeigte sich ahnungslos über die KZ-Vergangenheit seiner Frau und war überzeugt davon, dass hier eine Verwechslung vorlag: "She would not hurt a fly", sagte er. "Dies ist das Ende von allem für mich", meinte Braunsteiner zu dem Journalisten der "New York Times".

Da sie ihre frühere strafrechtliche Verurteilung vor den US-Einwanderungsbehörden verschwiegen hatte, verlor Braunsteiner 1971 die US-Staatsbürgerschaft. Deutschland und Polen beantragten daraufhin ihre Auslieferung. Vor 50 Jahren, im August 1973, wurde sie als erste Person, die im Nationalsozialismus Verbrechen begangen hatte, von den USA an Deutschland ausgeliefert. Die US-Behörden nutzten diesen Casus als Präzedenzfall und richteten daraufhin eine Sonderermittlungsstelle ein, um zukünftig Kriegsverbrecher zu finden und auszubürgern.

Keine Reue im Prozess

Braunsteiner wurde 1975 im 3. Majdanek-Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf zusammen mit insgesamt 16 anderen Aufseherinnen und Aufsehern des Lagers angeklagt. Die Vorwürfe gegen Braunsteiner lauteten gemeinschaftlicher Mord in 1.181 Fällen und Beihilfe zum Mord in 705 Fällen. Die Angeklagte war vor Gericht meist schweigsam und zeigte keine Reue. Sie bestritt ihre Schuld, nannte als Grund für ihr Handeln ihren Mangel an Lebenserfahrung und bezeichnete sich als "kleines Rad im Getriebe". Ferner behauptete sie, nur Befehle befolgt und keine andere Wahl gehabt zu haben, als sich an den Gräueltaten in Ravensbrück und Majdanek zu beteiligen.

Braunsteiner, Stute von Majdanek, NS-Verbrechen
Hermine Braunsteiner beim Prozessauftakt 1975. Die insgesamt 16 früheren Aufseherinnen und Aufseher des KZ Lublin Majdanek wurden für die Ermordung von insgesamt rund 250.000 Personen – die allermeisten davon jüdischer Herkunft – angeklagt.
imago/ZUMA/Keystone

Über ihre Zeit im Lager berichtete sie, "der ganze Eindruck und die ganze Atmosphäre im Lager haben mich seelisch sehr belastet, ich meine als Frau". Überlebende aus Majdanek sagten aus, dass die Angeklagte Frauen zu Tode peitschte, Kinder an den Haaren packte und auf Lastwagen warf, um sie in die Gaskammer zu bringen, dass sie einen Schemel wegtrat, um ein junges Mädchen zu erhängen, und dass sie alte Frauen mit ihren Stiefeln zu Tode trampelte.

Während der Verhandlung erlitt Braunsteiner zweimal einen Nervenzusammenbruch. Sie wurde aufgrund einer Kaution ihres Ehemanns, der mit ihr nach Deutschland gezogen war, 1976 aus der Untersuchungshaft entlassen, sodann aber wieder festgenommen, da sie versucht hatte, eine Zeugin einzuschüchtern. Nach einem jahrelangen Prozess verurteilte das Gericht Hermine Braunsteiner 1981 als einzige der Angeklagten zu lebenslanger Haft, erstens wegen Selektion mit Mord an 80 Menschen, zweitens wegen Beihilfe zum Mord an 102 Menschen und drittens wegen Selektion mit gemeinschaftlichem Mord an 1.000 Menschen.

Entlarvende Briefe

Die ehemalige KZ-Aufseherin verbrachte so 20 Jahre in einem deutschen Gefängnis, bis sie aus gesundheitlichen Gründen (ihr waren inzwischen beide Beine wegen ihrer Zuckerkrankheit amputiert worden) begnadigt wurde. Sie lebte dann in einem Altersheim, wo sie Jahre später von einem Journalisten aufgesucht wurde. Bei dieser Gelegenheit zeigte sie immer noch keine Spur von Reue. Hermine Braunsteiner starb am 19. April 1999 im Alter von 79 Jahren in Bochum.

Vor zehn Jahren entdeckte ein junger Mann in Graz in der Hinterlassenschaft seiner Großmutter mehrere Briefe, die Braunsteiner in den Jahren 1957 bis 1973 diese Frau geschickt hatte. Braunsteiner schrieb unter anderem: "Dieses habe ich alles meinen lieben Freunden, den J. (den Juden, Anm.) und auch dem deutschen Staat zu verdanken, die es für nötig halten (auf den enormen Druck und Geldmacht der so beliebten Rasse) mich nach 34 Jahren für schuldig machen zu wollen, und so meine Auslieferung fordern, um mich aufs neue wieder zu verurteilen, für all das, was damals der deutsche Staat anordnete und ausführen ließ." Ferner meinte sie, dass ein "fester Glaube an den Herrgott und eine Gerechtigkeit" ihr große Hoffnung gäben, freizukommen.

Wenig Wissen, falsche Vermutung

Die Geschichte der Hermine Braunsteiner ist in vielerlei Hinsicht bedrückend. Wir wissen heute noch relativ wenig über die Gräueltaten, die von Frauen in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs begangen wurden. Wenn wir vereinzelte Berichte darüber hören, so sind wir schockiert; intuitiv meint man wohl, dass Frauen zu so etwas nicht imstande seien. Hermine Braunsteiner zeigt, dass diese Vermutung unrichtig ist.

Sie ist offensichtlich bis zum Ende eine hasserfüllte Antisemitin geblieben, die von der Richtigkeit ihrer Untaten überzeugt war. So ist zu erklären, dass sie keine Reue zeigen konnte und sich schließlich sogar als Opfer verstand. Ihr fehlte offensichtlich jegliche Einsicht in ihre Schuld. Dass Braunsteiner sich schließlich auch noch auf den Herrgott und die Gerechtigkeit beruft, bestätigt ihren verachtenswerten Selbstbetrug.

Der aus meiner Sicht bedrückendste Aspekt ergibt sich aus der bangen Frage, wie wir uns heute unter ähnlichen Umständen verhalten würden. Das Böse, so fürchte ich, ist mit Hermine Braunsteiner nicht aus der Welt verschwunden. Ihre Geschichte sollte uns daran erinnern, welch hohes und unverletzliches Gut die Menschlichkeit für uns alle sein sollte. (Edzard Ernst, 23.9.2023)