Großbritannien könne sich die langsamere Gangart leisten, da es in Sachen Klimaschutz großen Vorsprung gegenüber "allen anderen Ländern" habe, so Sunak.
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Unter dem Eindruck verheerender Umfragewerte für seine Konservative Partei und der anhaltend schwierigen Wirtschaftslage verwässert der britische Premierminister Rishi Sunak die Klimapolitik seines Landes. Großbritannien werde sich von diversen Zielen auf dem Weg zur 2050 angestrebten Klimaneutralität verabschieden, sagte der Regierungschef am Mittwoch. "Politiker jeglicher Couleur" hätten die Kosten und Nachteile der bisherigen Politik nicht ehrlich dargestellt. Innenministerin Suella Braverman brachte den offenbar auf die Tory-Stammwählerschaft zielenden Kurswechsel in Medieninterviews auf den Nenner: "Wir werden den Planeten nicht retten, indem wir die Briten in den Bankrott treiben."

Die Regierung hatte von Sunaks Vorgängern Theresa May und Boris Johnson zwei wichtige Klimaziele geerbt: das Verbot neuer Benziner und Dieselautos von 2030 an sowie die Umrüstung der weit verbreiteten Gasboiler auf Wärmepumpen bis 2035. Beide Ziele werden nun nach hinten verschoben, Ersteres soll 2035 kommen. Zudem geben die Konservativen den Plan auf, Vermietern ehrgeizige Ziele zur besseren Wärmedämmung ihrer Mietobjekte vorzugeben.

In den vergangenen Wochen hatten Kabinettsminister stets beteuert, man wolle an der "internationalen Führungsrolle" bei der Reduzierung klimaschädlicher Emissionen festhalten. Industrievertreter beklagten am Mittwoch, Regierungsvertreter hätten noch tags zuvor die Klimaneutralität („Net Zero“) als oberste Priorität bezeichnet und der Wirtschaft Verlässlichkeit zugesichert. Wie zerstritten die Regierung bei dem schwierigen Thema ist, zeigte sich daran, dass Details der eigentlich für Freitag geplanten Rede Sunaks am Dienstag an die BBC durchgestochen wurden. Daraufhin veröffentlichte Downing Street eine Erklärung des Premierministers und zog dessen Kehrtwende auf Mittwoch vor.

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Kritik auch aus eigenen Reihen

Sunak erhielt brutale Kritik aus den eigenen Reihen. Das Vorgehen der Regierung sei "lächerlich", die ins Auge gefassten Veränderungen bestünden aus "dummen Aktionen", sagte der Leiter des unabhängigen Klimawandel-Komitees, Lord Deben, der BBC. Das konservative Mitglied des Oberhauses war unter seinem bürgerlichen Namen John Gummer in den 1990er-Jahren vier Jahre lang Umweltminister. Sein unabhängiger Ausschuss besteht aus eminenten Fachleuten.

Kaum weniger kritisch äußerte sich der Unterhaus-Abgeordnete Chris Skidmore, ein früherer Energie-Staatssekretär und Klimaschutzbeauftragter der Regierung unter Premier Johnson. Die Entscheidung werde Großbritannien "Arbeitsplätze, ausländische Investitionen und damit Wirtschaftswachstum" kosten, lautete Skidmores Analyse. Sunak begehe "den schlimmsten Fehler seiner Regierungszeit".

Umweltverbände drohten mit massiven Protesten. Empört reagierten auch Vertreter der Autoindustrie auf der Insel, die erst in den vergangenen Monaten hohe Millioneninvestitionen in neue E-Fahrzeuge sowie die nötige Batterietechnik verkündet hatten. Von der Regierung brauche man in der Klimapolitik "Ehrgeiz, Klarheit und Beständigkeit", keine Kurswechsel, hieß es bei Ford. Ein Seufzer kam auch von Jaguar Land Rover (JLR): "Wir würden Klarheit begrüßen."

Hinter Deutschland und Frankreich zurückgefallen

Im Juli erhielt Sunak bereits eine Abmahnung durch prominente Klimaschützer wie den früheren CEO von Unilever, Paul Polman, und den Ökonomen Lord Nicholas Stern. Anhand jüngster Daten berichteten sie, das bis dahin vorbildliche Königreich falle seit dem UN-Klimagipfel von Paris 2015 hinter vergleichbar große Industrienationen wie Deutschland oder Frankreich zurück. Hingegen rühmt Sunak sein Land hartnäckig als "führend" in der Klimapolitik, was auf den Emissionsabbau im Vergleich zum Stand von 1990 auch tatsächlich zutrifft. Mag die Insel für den internationalen Konsens auch wichtig sein – im Weltmaßstab ist ihr CO2-Ausstoß vernachlässigbar. So lag allein der Anstieg von Chinas Emissionen 2021 (um 510 Millionen Tonnen Kohlendioxid auf insgesamt 11,5 Milliarden) deutlich höher als Großbritanniens Gesamtbilanz (350 Millionen).

Dass dem früheren Hedgefonds-Manager und Finanzpolitiker Sunak der Kampf gegen den Klimawandel nicht genug am Herzen liege, haben Parteifreunde schon in der Vergangenheit immer wieder kritisiert. Seine Regierung hat ein umfangreiches Recyclingprogramm auf Eis gelegt und eine neue Kohlengrube sowie mehr Ölförderung in der Nordsee genehmigt. Der prominente Umweltpolitiker Zacharias Goldsmith trat von seinem Amt als Staatssekretär im Oberhaus mit der Begründung zurück, der Premier "interessiere sich nicht genug" für die Klimakrise.

Skepsis auch bei Labour

Der energiepolitische Sprecher der Labour-Partei, die sich allen Umfragen zufolge auf Siegeskurs befindet, erklärte nach Sunaks Ankündigung, Labour werde im Falle eines Wahlsiegs nächstes Jahr am bisherigen Datum zum Verbrenner-Aus festhalten. Doch auch in der Partei gab es zuletzt zunehmendes Unwohlsein über die Auswirkungen der Klimapolitik auf die Geldbeutel der von Brexit, Pandemie und vergleichsweise hoher Inflation gebeutelten Britinnen und Briten.

Im Sommer hatte Tony Blair davor gewarnt, mit Energiepreiserhöhungen und Auto-Maut "die Bevölkerung zu überfordern". Der Ex-Premier genießt bei Labour-Chef Keir Starmer großen Einfluss. Im Fall des Wahlsiegs 2024 hatte die Arbeiterpartei sofort ein nach US-amerikanischem Vorbild geschneidertes Paket staatlicher Investitionen in erneuerbare Energien und bessere Häuserisolierung in Höhe von jährlich 28 Milliarden Pfund (32,4 Milliarden Euro) auflegen wollen. Von diesem Plan hat sich Starmer verabschiedet. (Sebastian Borger aus London, 21.9.2023)