Frau geht in einen Tunnel voller Licht
Licht und Tunnel – eine vielgemachte Erfahrung bei einem Nahtoderlebnis.
EPA

Was passiert, wenn wir sterben, beschäftigt die Menschheit, seit sie denken und nachdenken kann. Neben der Religion, die seit jeher Antworten auf diese Frage sucht und liefert, versucht auch die Wissenschaft herauszufinden, was in den letzten Momenten unseres Lebens passiert. Auch will man eine Erklärung für die sich ähnelnden Nahtoderfahrungen finden, von denen viele Menschen berichten.

Das Grundproblem bei der Erforschung des Todes ist naheliegend. Personen, die wirklich gestorben sind, können danach keine Auskunft mehr geben, was ihnen wirklich widerfahren ist. Und Menschen, die in letzter Minute wieder "aktiv zurückkehren", sich also "für das Leben entscheiden", wie es viele Leute mit Nahtoderfahrung berichten, sind eben nicht wirklich gestorben. Das noch aktive Gehirn könnte bei ihnen für Halluzinationen, Träume und Erinnerungen gesorgt haben.

Starke Gehirnaktivität

Dass die Gehirnaktivitäten beim Sterben noch einmal rapide ansteigen können, haben US-Forschende erst vor wenigen Monaten in einer – wenn auch kleinen – Studie aufgezeigt. So konnte mittels Elektroenzephalogramm (EEG) gemessen werden, dass die Gammawellenaktivität im Gehirn in dem Moment stark zunahm, als die lebenserhaltenden Maßnahmen getrennt wurden. Auch bei Mäusen wurde dieser Effekt bereits nachgewiesen. Gleichzeitig fanden die Forschenden in der Tierstudie aber auch heraus, dass sich Nervenzellen nach so einem beginnenden "Shutdown" länger vollständig erholen können, als man lange vermutet hatte.

Diese Erkenntnis wurde nun in einer aufwendigen Studie unter der Leitung des Kardiologen Sam Parnia von der New York University eindrucksvoll bestätigt. Von Mai 2017 bis März 2020 wurden 567 Patienten an ein EEG angeschlossen, nachdem sie einen Herzstillstand erlitten hatten. Parallel dazu liefen Reanimationsversuche, um das Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Nur zehn Prozent der Patienten überlebten und konnten das Krankenhaus wieder verlassen. 28 Personen konnten danach über ihre Erfahrung befragt werden. 126 weitere, die außerhalb eines Krankenhauses einen Herzstillstand erlitten und "zurückgekehrt" waren, wurden ebenfalls befragt.

Gehirn Aktivitäten Nervenzellen
Die komplexen Zusammenhänge im Gehirn stellen Forschende vor viele Rätsel.
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Immerhin 40 Prozent der Befragten konnten sich in irgendeiner Form an die Momente nach dem Herzstillstand und die Wiederbelebungsmaßnahmen erinnern. Einige berichteten, das konkrete Geschehen der Reanimation und körperliche Schmerzen wie Druck auf der Brust wahrgenommen zu haben, sei es als real wirkende Erfahrung oder wie in einem Traum. Die meisten berichteten jedoch von klassischen Nahtoderfahrungen, wie "den eigenen Körper zu verlassen", "in einen Tunnel zu gehen", "das eigene Leben Revue passieren zu lassen", "an einen angenehmen Ort mit Licht zu gehen", aber dann doch "umzudrehen und zurückzukehren".

60 Minuten später

Diese Erinnerungen und auch ob sie tatsächlich die Zeit nach dem Herzstillstand, unmittelbar davor oder danach beschreiben, sind objektiv nur schwer zu verifizieren. Die Auswertung der EEG-Daten bei jenen Patienten, die im Krankenhaus behandelt und erfasst wurden, förderte jedoch Spannendes zutage. Denn bei 40 Prozent der Patienten und Patientinnen, die vorübergehend keine elektrisch messbaren Gehirnaktivitäten mehr hatten, kehrten diese nach einer gewissen Zeit in einer Art und Weise zurück, die laut den Forschenden auf ein funktionierendes Bewusstsein schließen lassen. Bei manchen war dies erst 60 Minuten nach Beginn der Reanimation der Fall.

Auch wenn die Meinung unter Gehirnforscherinnen und -forschern auseinandergehen, ob die gemessenen Aktivitäten tatsächlich unter Bewusstsein klassifiziert werden können, steht für den Autor der Studie fest, dass die Erkenntnisse bei medizinischen Behandlungen berücksichtigt werden sollten. "Bisher ging man davon aus, dass das Gehirn zehn Minuten nach Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr durch den Herzstillstand irreversible Schäden davonträgt. Unsere Studie zeigt aber, dass das Gehirn seine elektrische Aktivität deutlich später wiederherstellen kann", erklärt Parnia. Das könne neue Behandlungsoptionen gegen Hirnschäden aufzeigen.

Erinnern bei Nahtoderfahrung

Warum so viele Menschen mit Nahtoderfahrung einen Schnelldurchlauf ihres Lebens mit zahlreichen Erinnerungen erleben, ist wissenschaftlich weiterhin nicht geklärt. Den Forschenden zufolge könnte dies damit zu tun haben, dass die Barrieren, die normalerweise im Gehirn installiert sind, um uns nicht mit einer schier endlosen Anzahl an Gedanken und Erinnerungen zu überfordern, sich im Prozess des Sterbens auflösen. Möglicherweise hätten Sterbende einen Zugang zu einer Ebene von Bewusstsein, die bei allen Menschen ähnlich, aber nur kurz vor dem Tod zugänglich ist.

Auch wenn noch viel mehr Forschung zu dem Thema notwendig ist. Für den Intensivmediziner Lakhmir Chawla, vom Veterans Affairs Medical Center in San Diego, der selbst zu EEG-Aktivitäten bei Sterbenden forscht, sind die im Journal "Resuscitation" publizierten Erkenntnisse jedenfalls "bemerkenswert". In einer Stellungnahme gegenüber dem Medium "Scientific American" zeigte er sich überzeugt, dass Patientinnen und Patienten bei Wiederbelebungsmaßnahmen so behandelt werden müssen, "wie wenn sie wach wären". Aber auch wenn jemand nicht gerettet werden könne, solle man Angehörige und die Familie in diesen letzten Momenten zum Patienten lassen, weil dieser vielleicht in der Lage sei, sie zu hören oder wahrzunehmen. (Martin Stepanek, 23.9.2023)