Beinamputierter Soldat im Rehabilitationszentrum Superhumans in Lwiw.
Derzeit befinden sich etwa 60 Patienten im Rehabilitationszentrum Superhumans in Lwiw, darunter Illia Smirnow.
Daniela Prugger

Fest entschlossen schaut Illia Smirnow auf die Turnmatte, die vor ihm liegt. Seit einem Monat trägt der 26-Jährige zwei Beinprothesen, mit dem rechten Arm stützt er sich auf eine Krücke. Dann beugt sich der Mann langsam nach vorne, bis er mit der freien Hand den Boden berührt. Er lässt die Krücke fallen, stützt sich auf beide Unterarme, hält kurz die Spannung und schiebt sich wieder zurück in den Stand.

"Noch einmal", sagt Smirnow zur Rehabilitationstrainerin, die ihn mit beiden Händen absichert. Er beginnt das Ganze von vorne. Jeden Tag trainiert Smirnow, um seine Muskelkraft aufzubauen. Er will bald alles allein schaffen: aufstehen und gehen. Und nach seiner Entlassung, sagt er, gehe er zurück zur Armee. "Ich habe eine Menge Erfahrung und habe vor, Ausbildner zu werden, damit den jungen Soldaten, die nachkommen, mein Schicksal erspart bleibt."

Überwiegend Soldaten

Vor ziemlich genau einem Jahr geriet Smirnow bei Bachmut unter Artilleriefeuer und wurde verwundet. "Bei den meisten hier war es Bachmut", sagt er, als er sich nach der Übungseinheit in seinem Rollstuhl ausruht und den anderen Männern zunickt, die an diesem Tag mit ihm im Gymnastikraum des Rehabilitationszentrums Superhumans in Lwiw trainieren. Laut Sprecher Andrij Ischyk sind 97 Prozent der derzeit 60 Patienten männlich und überwiegend Soldaten.

Aufgenommen wird, wer das Onlineformular auf der Webseite ausfüllt und ein medizinisches Gutachten besteht. "Damit wird beurteilt, ob die Person in der psychischen und physischen Verfassung ist, eine Prothese zu erhalten. Denn manche benötigen eine weitere Operation, oder eine Reamputation", erklärt Ischyk.

Seit der russischen Invasion ist die Westukraine nicht nur zu einem Zufluchtsort für Menschen aus den hart umkämpften Regionen geworden, sondern auch zu einem Hub für Rehabilitation. Doch für viele Patienten sei der lange Weg dorthin umständlich, so Ischyk. Illia Smirnow etwa stammt ursprünglich aus der Stadt Nikopol, nahe dem besetzten Atomkraftwerk Saporischschja.

"Um ehrlich zu sein dachte ich nicht, dass ich jemals lebend zurückkommen würde", erinnert er sich an den Tag zurück, an dem er an der Front verwundet wurde. Er dient bereits seit 2019 in der Armee. Im Jahr darauf nahm ihn die 80. Luftlandebrigade, die in Lwiw stationiert ist, unter Vertrag. Zuletzt war er als Mechaniker im Einsatz.

Beinamputierte Soldaten im Rehabilitationszentrum 
Weitere Einrichtungen sind geplant, denn der Bedarf wird in der Ukraine angesichts des Kriegs sicher noch steigen.
Daniela Prugger

Zwei Kameraden befestigten die lebensrettenden Tourniquets an seinen Oberschenkeln, um den Blutfluss zu stoppen. "Ich kann mich noch erinnern, dass es gegen sechs Uhr morgens passiert ist und ich vor Schmerz geschrien habe", erzählt er.

Er wurde von einem Krankenhaus ins nächste gebracht, zuerst nach Kramatorsk, dann nach Dnipro, Kiew und schließlich nach Lwiw, wo er von Superhumans erfuhr und endlich seine Prothesen erhielt. Er hatte Glück. Derzeit stehen mehr als 500 Namen auf der Warteliste.

Warten auf die Prothese

Laut Medienberichten haben seit Kriegsbeginn 20.000 bis 50.000 Soldaten und Zivilisten ein oder mehrere Gliedmaßen verloren, viele von ihnen warten derzeit auf Prothesen. Davon, dass die Zahl in den nächsten Monaten steigen wird, ist auszugehen. Die Kämpfe an der Front und die Luftangriffe gehen unvermindert weiter, und die Ukraine selbst gilt mittlerweile als das am stärksten verminte Land der Welt: 30 Prozent des Territoriums sind infolge des russischen Angriffskriegs kontaminiert.

Die Frage, wie viele Rehabilitationszentren in Planung sind, lässt das ukrainische Gesundheitsministerium gegenüber dem STANDARD unbeantwortet. Im Fokus stehe derzeit der Wiederaufbau medizinischer Einrichtungen im ganzen Land – mindestens 1.436 wurden laut offiziellen Angaben aufgrund des Krieges beschädigt, weitere 190 vollständig zerstört. Die meisten davon befinden sich in den Regionen Charkiw, Donezk, Mykolajiw, Kiew und Tschernihiw. Bisher konnte zumindest mehr als die Hälfte teilweise renoviert werden.

Bei Superhumans in Lwiw sind zwar manche der Möbel noch nicht fertig zusammengebaut, und einige der Räume stehen leer, doch das Prothesenzentrum gilt derzeit aus medizinischer Sicht als eines der Vorzeigeprojekte im Land. Die Anlage, die unter anderem vom US-amerikanischen Geschäftsmann Howard G. Buffett mitfinanziert wird, wurde an eine bestehende Veteranenklinik am Rand der Stadt angebaut.

Dadurch könne man von der gegenseitigen Expertise profitieren und neben der Prothesenanpassung und körperlichen Rehabilitation auch eine umfassende psychologische Beratung anbieten, erklärt Sprecher Andrij Ischyk.

Beinamputierter Soldat im Rehabilitationszentrum 
Jede Prothese muss genau angepasst werden.
Daniela Prugger

In den kommenden Jahren soll es Superhumans in fünf weiteren Regionen geben. Doch um diese zu betreiben, benötigt es nicht nur die dafür notwendige Finanzierung. Laut Orthopädietechniker Dmitro Konontschuk sei das mangelnde Fachpersonal neben den Luftangriffen eine der größten Herausforderungen.

Der 31-Jährige hantiert in der Prothesenwerkstatt mit Gipsabdrücken, mit denen später der Schaft gefertigt wird, an den die aus Deutschland gelieferten Prothesen montiert werden. Konontschuk berät an diesem Tag einen Kollegen aus der zentralukrainischen Region Poltawa, der sich hier im Zentrum weiterbilden will.

Der etwas andere Vater

Darüber hinaus sei eine enge Zusammenarbeit mit Universitäten geplant. Davon, dass bald mehr Geflüchtete in die Ukraine zurückkehren, um hier zu arbeiten, sei derzeit nicht auszugehen. Nur wenige Stunden vor dem Interview erlebte Lwiw einen der heftigsten Luftangriffe seit langem. Jede Prothese sei einzigartig, erklärt Konontschuk und zeigt auf ein Modell. 40 Arme und 150 Beine für 160 Patienten hat ein Team seit Eröffnung des Rehabilitationszentrums im April 2023 fertiggestellt. An die schweren Schicksalsschläge, über die er täglich erfährt, habe sich Konontschuk schon lange gewöhnt, sagt er.

Er arbeitet seit acht Jahren als Orthopädietechniker, bis zum 24. Februar 2022 in Deutschland und in der Schweiz. Nachdem Russland angriff, kehrte er in seine Heimatstadt Lwiw zurück, wo seine Fähigkeiten, wie er sagt, mehr denn je gebraucht würden. Er liebe seine Arbeit. "Ich tue alles dafür, dass eine Person wieder stehen und gehen kann. Und wenn sie dann vor mir aufsteht und mich bittet, die ersten Schritte zu filmen, ist es so, als wäre ich selbst auf eine Art Vater geworden." (Daniela Prugger aus Lwiw, 24.9.2023)