Lehrling schneidet und verarbeitet Gipskarton Platten
In Oberösterreich herrscht ein großes Angebot an Lehrbetrieben – vor allem im handwerklichen Bereich und in der Industrie.
IMAGO/Sven Simon

Was in Oberösterreich gang und gäbe ist, gilt in vielen Wiener Familien als Notlösung: die Lehre. Jeder zweite 15-Jährige wird als Lehrling in einem oberösterreichischen Betrieb ausgebildet, die Bundeshauptstadt liegt in diesem Ranking an drittletzter Stelle in ganz Österreich. Dass es in Wien reichlich Alternativen im Schulsystem gibt und damit vor allem jene in der Lehrausbildung landen, die ihre Schullaufbahn abbrechen, ist zwar eine naheliegende Erklärung – gibt aber nur einen Bruchteil dessen wieder, was dahintersteckt.

DER STANDARD hat die verfügbaren Daten gesichtet, mit Entscheidungsträgerinnen und Forschern gesprochen und sich bei Lehrlingen selbst umgehört. Und es zeigt sich: Der Erfolg der Lehre in Oberösterreich hat viele Gründe – und so mancher davon lässt sich auf Wien ummünzen. Was also kann Wien vom Vorreiter in der Lehre lernen?

Einen hilfreichen Einblick gibt ein Beispiel aus der Praxis. Ein paradoxes, wenn man es genau nimmt. Die Geschichte von Tobias:

Wer jung beginnt, kommt hoch hinaus?

"Meine Schwestern haben alle Matura gemacht. Für mich war es am Anfang damit schon bissl schwieriger, dass ich da jetzt einen anderen Weg gehe", schildert der mittlerweile 23-Jährige seine ersten Erfahrungen in der Lehrausbildung. Mit 16 wechselt er aus dem Gymnasium in die Kochlehre, drei Jahre später ist er fertig ausgebildet. "Für mich war klar, ich will nicht mehr in der Schule sitzen", erinnert sich der Linzer. Doch auch die Arbeit als Koch erfüllt ihn nicht lange, vergangenes Jahr beginnt er seine zweite Lehre. Diesmal als Tischler. Seine erste Ausbildung bereut er aber nicht. "Es war im Endeffekt eine supergute Entscheidung, ein guter Start ins Berufsleben."

Abbruchquote bei Lehrlingen nach Branche, Alter beim Lehrantritt, Lehrbetriebsgröße und Bundesland.
Wirft man einen Blick auf die Statistiken, wird eines schnell klar: Für den Erfolg in der Lehre gibt es nicht den einen Grund.
IBW/Standard

Ein Werdegang wie jener von Tobias ist sicherlich nicht der Regelfall. Schon gar nicht für Oberösterreich, wie aktuelle Untersuchungen zeigen. Denn das Bundesland weist den größten Anteil an unter 18-Jährigen in der Lehre auf. Ein enormer Pluspunkt, wenn man einen Blick auf Statistiken des Instituts für Bildungsforschung der Wirtschaft (IBW) wirft. Je jünger der Auszubildende beim Antritt der Lehre, umso höher die Chance, dass er sie auch erfolgreich abschließt – und umso besser die Chancen am Arbeitsmarkt. Den hohen Zulauf im jungen Alter verdankt Oberösterreich gleich mehreren Faktoren.

"Bei uns hat die Lehre geschichtlich bedingt schon immer einen hohen Stellenwert", sagt Eva-Maria Schupfer, Abteilungsleiterin für Bildungspolitik bei der Wirtschaftskammer (WK) Oberösterreich. Die hohe Anzahl der Lehrlinge sei allein schon durch die Wirtschaftsstruktur begründet. Oberösterreich gilt als Industriestandort, zudem sind die Sparten Handwerk und Gewerbe stark vertreten. Allesamt Bereiche, in denen Lehrlinge gefragt sind. Das zeige sich auch an einem hohen Lehrstellenüberhang. Zahlen des Arbeitsmarktservice weisen rund 800 Lehrstellensuchende aus – auf der anderen Seite sind mehr als 2.000 offene Lehrstellen gemeldet. Der Einsatz der Betriebe sei damit groß, die Ausbildungsstätten bestens ausgestattet.

Schulbank schlägt Lehrwerkstatt

In Wien ist die Situation etwas anders. Dort sind Ausbildungswege wie jener von Tobias nicht ganz so unüblich. Hört man sich ein wenig um, fällt vor allem ein Aspekt immer wieder. Zynisch gesagt: Die Lehre ist in Wien für viele eine Notlösung, wenn es in der Schule nicht klappt. Etwas neutraler formuliert es Alexander Eppler, Bildungsbeauftragter der WK Wien und Geschäftsführer einer Spenglerei und Dachdeckerei in Wien. "Der Status einer Lehre in den Bundesländern ist ein anderer als in der Stadt. Dort ist es weiterhin attraktiver, eine schulische oder sogar überbetriebliche Lehre zu machen."

Bislang scheitere es vor allem an der Kommunikation. "Ich bin fest davon überzeugt, dass viele in der Schule sitzen, die selbst talentierte Handwerker und damit auch glücklicher wären", sagt Eppler, der selbst eine Lehre absolviert hat und nun im eigenen Betrieb Lehrlinge ausbildet. Ansprechpartner müssten aber nicht nur die Jugendlichen selbst sein.

Ähnlich sieht es Monika Sandberger, Geschäftsführerin der Lehrlingsinitiative Zukunft Lehre Österreich. "Entscheidungsträger sind letztlich oft die Eltern. Mach mal die Schule fertig und beginn dann zum Arbeiten", hieße es oftmals. Das Ergebnis: Viele bleiben im Schulsystem, jeder zweite Teenager in Wien besucht eine AHS. Von dort aus geht es nur noch für wenige in Richtung Lehre. Nur sieben Prozent der Berufsschüler im ersten Lehrlingsjahr haben zuvor eine AHS besucht, zeigen Zahlen von 2021. Den mit Abstand größten Zufluss von der Schule in die Lehre gab es – wenig überraschend – aus den polytechnischen Schulen (PTS). Diese sind so konzipiert, dass sie als spezifische Vorbereitung für eine duale Berufsausbildung dienen – und sind vor allem in Oberösterreich stark vertreten. 49 PTS gibt es dort laut dem österreichischen Schulportal, gerade einmal 14 im deutlich bevölkerungsreicheren Wien.

Welche Lehren Wien daraus ziehen kann

Letztlich sind es wieder einmal Angebot und Nachfrage, die die Dynamiken bestimmen. In der Bundeshauptstadt gibt es viele Schultypen und akademische Ausbildungen, die mit der Lehre konkurrieren. Die Nachfrage ist beschränkt, gleichzeitig aber auch das Angebot, wie Monika Sandberger erklärt. Der Anteil an Firmen, die Lehrlinge ausbilden, liege in Wien deutlich niedriger. 2021 war es in etwa jeder neunte Betrieb. Und auch die Größe der Ausbildungsbetriebe unterscheidet sich zwischen den Bundesländern. Dank der starken Industrielandschaft gibt es in Oberösterreich reichlich große Ausbildungsbetriebe. Ein weiterer Vorteil, statistisch gesehen ist es nämlich so: Je größer der Lehrbetrieb, also je mehr Lehrlinge in einem Betrieb ausgebildet werden, umso besser fallen auch die Lehrabschlussquoten aus. Das zeigen Untersuchungen des Instituts für Höhere Studien (IHS) ebenso wie Zahlen der WK und des IBW.

Die Wirtschaftsstruktur Wiens umzukrempeln, nur um erfolgreicher Lehrlinge auszubilden, ist natürlich fernab der Realität. Der Blick dorthin, wo es besser läuft, schadet aber selten. Auch wenn es weitere Gründe für die Erfolgsquoten gibt und selbst die Statistiken nicht alles erfassen: Für Monika Sandberger gibt es allen voran eine Lehre zu ziehen: "Wir haben ein tolles Schul- und Bildungssystem, keine Frage. Aber wir müssen beginnen, die Lehre nicht als zweite Wahl, sondern als gleichgestellte Option zu betrachten." (Nicolas Dworak, 26.9.2023)