Frau sitzt auf dem Bett und schaut nach draußen
Viele fühlen sich auch noch Wochen nach einer Corona-Infektion müde und erschöpft. Das kann, muss aber nicht eine Long-Covid-Erkrankung bedeuten.
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Geruchs- und Geschmacksstörungen, Erschöpfungszustände oder Fatigue: Die Nachwirkungen einer Corona-Erkrankung können in manchen Fällen lange zu spüren sein. Wie oft, das wurde lange Zeit nur geschätzt. Man ging von etwa zehn Prozent aus, die nach einer Infektion an Long Covid leiden.

Mit der Zeit häuften sich international die Daten zu dem Thema. Immer mehr Wissenschafterinnen und Wissenschafter erforschten das neue Krankheitsbild Long Covid. Damit tat sich in der Forschung aber auch ein zentrales Problem auf: Es gibt keine einheitliche Definition von Long Covid, die alle Forschenden konsistent herangezogen haben.

Offizielle Stellen wie etwa die WHO haben das Krankheitsbild zwar definiert, aber viel zu breit gefasst, um Folgeerkrankungen von gängigen Symptomen während einer Genesungsphase abzugrenzen. Vereinfacht gesagt: Nicht alle, die sich nach einem schweren Infekt noch ein paar Wochen lang schlapp und erschöpft fühlen, haben Long Covid. Schwere Folgeerkrankungen wie etwa jene Form von Long Covid, die dem chronischen Fatigue-Syndrom ME-CFS ähnelt, wurden in vielen Studien mit gängigen Symptomen in Rehabilitationsphasen in einen Topf geworfen.

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Kaum Kontrollgruppen bei Long-Covid-Studien

Das verfälscht naturgemäß die Zahlen. Das Risiko, nach einer Sars-CoV-2-Infektion tatsächlich an Long Covid zu leiden, werde demzufolge überschätzt, schreiben Forschende rund um den US-Onkologen Vinay Prasad in einer Analyse im Fachjournal "BMJ Evidence-Based Medicine". Viele wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Krankheitshäufigkeit würden eklatante methodische Mängel wie etwa fehlende oder ungeeignete Kontrollgruppen aufweisen.

Demnach verfügten nur 22 der untersuchten 194 Long-Covid-Studien über Kontrollgruppen. Insbesondere in der Anfangszeit der Pandemie sei es in Long-Covid-Studien zu Stichprobenverzerrungen in den untersuchten Kohorten gekommen, heißt es weiter. In der Öffentlichkeit würden dadurch auf Basis verfälschter Häufigkeiten unangemessene Bedenken und Ängste geschürt, schreiben die Fachleute.

Risiko bei Delta höher als bei Omikron

Dem Paper liegt allerdings keine detaillierte Untersuchung zugrunde, es ist ein wissenschaftlicher Meinungsbeitrag. Andreas Stallmach hält die Publikation dennoch für wichtig, sie gebe Denkanstöße. Stallmach ist Leiter des Long-Covid-Zentrums des Universitätsklinikums Jena und stimmt der These, dass die Häufigkeit von Long Covid überschätzt wird, "partiell zu", sagt er.

Die Auswahl der untersuchten Patientinnen und Patienten sei in den bisher publizierten Studien sehr uneinheitlich: "Das Zeitintervall zwischen Infektion und Beobachtung ist dabei relevant. Werden Betroffene zwölf Wochen nach Symptomen befragt, ergibt sich eine andere Prävalenz, als wenn der zeitliche Abstand zum Beispiel sechs oder zwölf Monate beträgt."

Und auch das Virus selbst habe Einflüsse auf die Wahrscheinlichkeit, an Folgeerkrankungen zu leiden. Als Delta die dominierende Variante war, sei das Risiko deutlich höher gewesen als bei Omikron: „Die Daten aus der Delta-Welle dürfen nicht eins zu eins mit Daten aus der Omikron-Welle zusammengeworfen werden.

Was ist wirklich Long Covid?

Auch Peter Berlit von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie glaubt, dass mangelhafte Studien "sicherlich dazu beigetragen haben, dass das Krankheitsrisiko heute überschätzt wird." Selbst in der Wahrnehmung vieler Ärztinnen und Ärzte sei die Zahl der Long-Covid-Betroffenen viel zu hoch, glaubt er: "Wenn wir uns wirklich gut gemachte Studien anschauen, in denen Covid-19-Patienten mit Patienten verglichen werden, die ähnlich schwer an anderen Atemwegsinfektionen erkrankt waren, sieht man, dass es für langanhaltende Symptome bei Covid-19 kaum eine erhöhte Frequenz gibt."

Die häufig bei Long Covid beschriebenen Symptome seien meist also überhaupt nicht Corona-spezifisch. Das chronische Müdigkeitssyndrom etwa trete auch bei anderen viralen Infektionen auf. "Es ist nach wie vor nur unzureichend erforscht und wird zunehmend synonym für Long Covid gebraucht, was so nicht korrekt ist. Covid-19-spezifisch sind derweil Symptome wie die Beeinträchtigung des Geruchs- und Geschmackssinns", stellt Berlit klar.

Trotzdem betont Clara Lehmann, Fachärztin für Innere Medizin und Infektiologie und Leiterin der Post-Covid-Ambulanz der Uni-Klinik Köln, dass Long oder Post Covid "kein Hirngespinst ist": "Bei einigen Patienten sehen wir auch mehrere Wochen nach der Infektion krasse inflammatorische Reaktionen. Doch dies trifft nicht auf das Gros der Patienten zu. Wir müssen dieses Krankheitsbild ernst nehmen, aber dazu gehört eine ehrliche wissenschaftliche Bestimmung des tatsächlichen Krankheitsrisikos." (poem, 26.9.2023)