Messner Kammerlander
Hans Kammerlander und Reinhold Messner auf einem Foto aus dem Jahr 1991. Da hatten die Südtiroler ihre sieben gemeinsamen Achttausender-Expeditionen schon hinter sich.
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Es war am 24. April 1985, und es war in Nepal. An diesem Tag hatten Reinhold Messner und Hans Kammerlander den zehnthöchsten Berg der Welt erklommen, die oder den 8091 Meter hohen Annapurna. Nicht nur am Artikel dieses Achttausenders scheiden sich die Geister. Neue Berechnungen mit Geodaten sowie Auswertungen einer Unmenge von Gipfelfotos ergaben, dass der Gipfel der Annapurna von vielen Bergsteigerinnen und Bergsteigern nicht korrekt identifiziert worden ist.

Damit steht die (oder der) Annapurna nicht alleine da, doch in ihrem Fall ist der legendäre Messner betroffen. Ihm und Kammerlander sollen am 24. April 1985 zum tatsächlichen Gipfel 65 Meter und/oder fünf Höhenmeter gefehlt haben. Das behauptet der Deutsche Eberhard Jurgalski, dessen jahrelange Berechnungen auch dazu führten, dass Messner vom Guinness-Buch der Rekorde nun nicht mehr als Erster geführt wird, der alle 14 Achttausender bestieg – noch dazu ohne Flaschensauerstoff.

"Mir kann es ja völlig egal sein", sagt Kammerlander, der "nur" auf zwölf der 14 Achttausender stand, dem STANDARD. "Aber hier geht es um die Legende, es geht um den Reinhold Messner. Und niemand, der vom Bergsteigen auch nur ein bisserl was versteht, wird ihm das aberkennen, was er geschafft hat. Ganz egal, wie man dem Reinhold gegenübersteht, ob man sein Freund oder sein Kritiker ist: Das steht ihm einfach zu."

Hans Kammerlander: "Im Guinness-Buch steht wohl auch, wie lang die längste Bratwurst ist und wer am weitesten pinkelt."
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Kammerlander (66) stammt wie Messner (79) aus Südtirol, der Ältere hatte den Jüngeren seinerzeit zu etlichen Expeditionen eingeladen. Die Annapurna war einer von sieben Achttausendern, die sie gemeinsam meisterten. Den einen oder anderen Rekord hat auch Kammerlander gehalten, etwa von 1996 bis 2006 jenen für die schnellste Besteigung des Mount Everest. Aber Rekorde sind ihm – wie auch Messner ("Einen Rekord, den ich nie in Anspruch genommen habe, kann man mir auch nicht nehmen") – nicht wichtig. "Und das Guinness-Buch der Rekorde ist mir sowieso scheißegal. In diesem Buch steht wohl auch, wie lang die längste Bratwurst ist und wer am weitesten pinkelt. Da muss man nicht unbedingt dabei sein."

Die gezählten Erbsen

Das Guinness-Buch ist für Kammerlander ebenso wenig ernst zu nehmen wie Jurgalski, den er einen "reinen Wichtigtuer und Erbsenzähler" nennt. Natürlich hat es das schon gegeben, dass sich einer einen Gipfelsieg sozusagen nur vorgestellt oder sogar gelogen hat, doch dabei handelte es sich um wenige Einzelfälle. "Wäre es jetzt nur einer, so wäre eine Diskussion vielleicht angebracht", sagt Kammerlander. "Aber es sind ja Dutzende, darunter viele namhafte Spitzenalpinistinnen und -alpinisten."

Die erste Frau

Kammerlander spricht auch die Oberösterreicherin Gerlinde Kaltenbrunner an, die als erste Frau ohne Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff auf allen Achttausendern stand, der aber laut Jurgalski genau genommen Manaslu und Dhaulagiri fehlen würden. "Dabei hat die Gerlinde alles wirklich sauber gemacht", sagt Kammerlander. "Und sie hat es ohne Flaschensauerstoff geschafft und hat die Sauerstofftanten laufen lassen."

Der oder die Annapurna. Messner und Kammerlander sollen am 24. April 1985 nicht ganz oben gewesen sein.
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Jurgalski hat vorgerechnet, dass ein gewisser Ed Viesturs nun Messner ablösen müsste als Erster auf allen Achttausendern. Der US-Amerikaner hätte 2005 seinen 14. Gipfel erreicht. 19 Jahre zuvor, am 16. Oktober 1986, hatte Messner ebenfalls im Gespann mit Kammerlander den Lhotse bestiegen und damit seine Achttausenderliste komplettiert. "Es geht auch um den Stil der Besteigungen", sagt Kammerlander. "Ob es dann auf dem Gipfel ein paar Schritte nach links oder rechts gewesen wären, tut nichts zur Sache. Wenn eine Schlüsselstelle gefehlt hätte, wäre es etwas anderes. Aber die Erbsenzählerei gefährdet den Alpinismus, sie ist lächerlich." Nicht nur Messner, sondern auch jene, mit denen dieser sich maß, seien "allesamt Musteralpinisten gewesen".

Kammerlander erinnert an den Polen Jerzy Kukuczka, der sich mit Messner einen Wettlauf lieferte und 1987 "finishte", und an den Schweizer Erhard Loretan, der 1995 als Dritter sein Hakerl unter den 14. Achttausender machte. Kukuczka kam 1989, Loretan kam 2011 am Berg ums Leben. Kammerlander sieht ihr Andenken beschädigt. "Messner, Kukuczka, Loretan – das waren echte Granaten", sagt er.

Der zwölfte Mann

Den Amerikaner Viesturs, 2005 eigentlich der zwölfte Mann auf allen Achttausendern, würde der Südtiroler nicht unbedingt so bezeichnen. Er hält es mit Billi Bierling, Leiterin der "Himalayan Database" in Kathmandu, die sich für die Einführung einer Toleranzgrenze aussprach und sagte: "Ich finde, man kann die Geschichte nicht umschreiben, wenn es nur um ein paar Meter geht." Kammerlander denkt zurück an den 24. April 1985, an dem er gemeinsam mit Reinhold Messner auf der oder dem Annapurna stand. "Der Berg war fertig." (Fritz Neumann, 28.9.2023)