Menschen aus Bergkarabach kommen in Armenien an. Nach Behördenangaben flohen bereits mehr als 65.000 ethnische Armenierinnen und Armenier.
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Sie sind teilweise bereits seit dem Angriff am 19. September unterwegs und haben nicht mehr mitgenommen, als was sie an diesem Tag am Leib trugen. Mehr als die Hälfte der ethnischen Armenier haben die Kaukasusregion Bergkarabach verlassen, seit das aserbaidschanische Militär dort einmarschierte. Bislang seien 65.036 Menschen in Armenien angekommen, teilte die Sprecherin des armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan am Donnerstag mit. Viele der Flüchtlinge befürchteten ethnische Säuberungen in ihrer Heimat und glauben den Beteuerungen Aserbaidschans nicht, dass sie nichts zu befürchten hätten.

Auch die armenische Regierung sprach von ethnischen Säuberungen und forderte eine Reaktion der internationalen Gemeinschaft, die bislang sehr verhalten ist. Ministerpräsident Paschinjan warnte am Donnerstag bei einer Kabinettssitzung: "Unsere Analyse zeigt, dass es in den nächsten Tagen keine Armenier mehr in Bergkarabach geben wird." Für Armenien ist der Zustrom der Menschen aus Bergkarabach vor allem eine logistische Herausforderung. In dem Land selbst leben nur 2,8 Millionen Menschen.

Der Krieg zwischen dem Militär Aserbaidschans und proarmenischen Kämpfern dauerte vergangene Woche nur einen Tag lang. Aserbaidschan konnte schon 24 Stunden nach Beginn der Offensive die Kapitulation der proarmenischen Kämpfer erzwingen. Am Donnerstag haben die Behörden in Bergkarabach als Teil der Kapitulationsbedingungen dann die Auflösung der Region verkündet. In einem am Donnerstag auch veröffentlichten Dekret ordnete die örtliche Behörde an, zum 1. Jänner 2024 "alle staatlichen Institutionen und Organisationen" in der Kaukasusregion aufzulösen. Bergkarabach werde damit "aufhören zu existieren". Der separatistische Regierungschef Samwel Schachramanjan setzte zumindest am Donnerstag seine Unterschrift unter das Dokument.

Jahrelanger Konflikt

Damit gewinnt Aserbaidschan – zumindest vorerst – die völlige Kontrolle über das einst überwiegend von ethnischen Armeniern bewohnte Gebiet auf seinem Staatsgebiet zurück. Es wäre ein weiteres Kapitel in einem alten Konflikt geschlossen, für dessen friedliche Beilegung der politische Wille der jeweiligen Verbündeten Russland und Türkei in letzter Konsequenz offenbar nicht vorhanden war.

Für das an Rohstoffen reiche und mithilfe der Türkei hochgerüstete Aserbaidschan war die Frage laut Experten nie, ob, sondern wann das Gebiet zurückerobert wird, das Baku als gestohlen betrachtet. Ob wiederum Russlands mangelndes Engagement für die Verteidigung armenischer Interessen auf die Ablenkung und Schwächung durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine zurückzuführen ist oder ob es hinter den Kulissen Absprachen mit der Türkei gab, ist unklar.

Jedenfalls ist auch Moskau, bis vor kurzem langjährige Schutzmacht Armeniens, an einer Nord-Süd-Verbindung über Aserbaidschan in den Iran interessiert, um so die westlichen Sanktionen wegen des Ukrainekriegs umgehen zu können.

Region Berg-Karabach vor dem Ende.

In Bergkarabach selbst und für die zurückgelassene Bevölkerung ist die humanitäre Lage nach der neunmonatigen Blockade des Latschin-Korridors, der einzigen Landverbindung zwischen Armenien und Bergkarabach, nach wie vor besorgniserregend. Lebensmittel, Medikamente und Benzin sind weiterhin knapp. Schon aufgrund dieser Blockade, von der Aserbaidschan sagt, sie habe nie existiert, seien die Kriterien eines Genozids erfüllt, meinte Luis Moreno Ocampo, Ex-Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, schon vor Wochen.

Geopolitische Interessen

Ein zweiter Korridor, der sogenannte Sangesur-Korridor, löst in Armenien ebenfalls Sorge aus. Nach der Vorstellung Bakus soll demnächst auch eine feste Landverbindung mitten durch armenisches Territorium zwischen der aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan und Aserbaidschan existieren. Und damit auch in die Türkei.

Konkrete Schritte gab es schon wenige Tage nach der Offensive in Bergkarabach, als sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seinem aserischen Kollegen Ilham Alijew in der Enklave traf. Dort wurde beschlossen, dass von der Türkei aus eine Gaspipeline nach Nachitschewan gebaut werden soll, um die Enklave mit aserischem Gas zu versorgen. Außerdem will die Türkei einen Truppenstützpunkt in Nachitschewan einrichten. Armenien läge damit wieder zwischen den Fronten. (Manuela Honsig-Erlenburg, 28.9.2023)