Thilo Bode prangert seit Jahrzehnten Missstände in der Lebensmittelbranche an und entlarvt dreiste Werbelügen. An die Macht der Konsumenten glaubt der Foodwatch-Gründer und frühere Greenpeace-Chef nicht.

Was der einzelne Verbraucher macht, ist nicht umsonst, meint Foodwatch-Gründer Tilo Bode. "Nur darf man sich nicht der Illusion hingeben, damit Märkte zu verändern."
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STANDARD: Picksüße Limonaden, die mit Vitaminen aufgepeppt werden, Hühnersuppen nahezu ohne Huhn, Verpackungen mit mehr Luft als Inhalt – was ärgert Sie am meisten?

Bode: Mich ärgert am meisten, dass sich nichts ändert. Selbst wenn sich punktuell etwas verbesserte, hat sich anderes zeitgleich verschlechtert. Bestes Beispiel ist die Lebensmittelampel, an der seit 15 Jahren gearbeitet wird. Es ist eine Kennzeichnung, die nicht alle Probleme löst, die aber aufgrund ihrer Symbolik wichtig ist. Sie ist nach wie vor nicht verpflichtend vorgeschrieben.

STANDARD: Die Industrie läuft in Brüssel dagegen Sturm – weil eine Kategorisierung von Lebensmitteln wenig über ihren tatsächlichen Wert aussagt oder auf falsche Fährten führen kann.

Bode: Indikatoren für Qualität sind Rezepturen, Vorbehandlung, Herkunft, Umgang mit Tieren. Eine wertvolle Information ist aber auch, wie viel versteckter Zucker ein Produkt enthält. Warum zögert die EU-Kommission? Weil einzelne Länder darin eine Einschränkung des freien Warenaustauschs sehen könnten. Was ist, wenn Italien weniger Spaghetti und Parmesan exportiert, weil der Nutri-Score Menschen dazu veranlasst, weniger davon zu kaufen?

STANDARD: Welchen Einfluss können staatliche Regulative auf die Ernährung nehmen? Bisher waren Steuern auf Zucker und Fett wenig effektiv.

Bode: Sie haben klare Lenkungswirkung. In Chile und Mexiko hat sich die Zuckersteuer bewährt. In England änderten sich dadurch Rezepturen. Hersteller und Handel können über Siegel vieles behaupten, das Verbraucher in die Irre führt. Die Verordnung für Olivenöl etwa hat 128 Seiten. 128 Seiten! Trotzdem lässt sich seine Qualität in der höchsten Güteklasse Nativ Extra im Supermarkt nicht feststellen, obwohl Olivenöl zwischen fünf und 30 Euro kostet. Das ist kein Hexenwerk, sondern wird gesetzlich ermöglicht.

STANDARD: Zucker wurde infolge höherer Steuern durch Süßstoffe ersetzt. Konsumenten sattelten auf andere ungesunde Lebensmittel um. Die Steuer brachte hohen Verwaltungsaufwand, aber wenig Einnahmen und traf vor allem Geringverdiener. Liegt ein stärkerer Hebel für gesündere Ernährung nicht in höherer Bildung?

Bode: Zweck einer Zuckersteuer ist nicht, den Staatshaushalt zu finanzieren, sondern den Zuckerkonsum zu bremsen. Studien über die Wirksamkeit von Bildungsmaßnahmen kommen zum Schluss, dass Ernährungsbildung nicht erfolgreich ist. In die Zusammensetzung von Lebensmitteln greift man über Steuern oder Rezepturvorschriften ein. Ich bin dafür, den Zuckergehalt vorzuschreiben. Zusatzstoffe, die unter Verdacht stehen, die Gesundheit zu gefährden, gehören verboten. Wird Zucker durch problematische Süßstoffe ersetzt, gehört auch das reguliert. Es wird aber nicht gemacht.

STANDARD: Sie vermissen die Intervention des Staates?

Bode: Nahrungsmittel sind Vertrauensgüter, bei denen Konsumenten die Qualität nicht selbst feststellen können. Zusatzstoffe, Herstellungsweise, Herkunft sind für sie nicht überprüfbar. Der Staat greift bei Küchenmaschinen ein, bei Lebensmitteln tut er es nicht. Es ist ein Vertrauens- und Rechtsbruch. Dabei sind die Gesetze wunderbar kurz und klar: Verbraucher dürfen nicht getäuscht, ihre Gesundheit darf nicht gefährdet werden. Schon die Möglichkeit dazu gilt als Gefährdung und Täuschung.

STANDARD: Erhalten Konsumenten, die Kleingedrucktes lesen, nicht mehr Einblick denn je in das, was sie essen?

Bode: Transparenz darf nicht komplex sein. Sie entsteht auch nicht durch mehr Information, die oft unlesbar, unverständlich oder nur online ersichtlich ist.

STANDARD: Verklären viele Kritiker der Lebensmittelbranche nicht auch die Vergangenheit? Nie war die Auswahl an Lebensmitteln größer als heute, nie gab es mehr Auflagen und Kontrollen. Ist es Jammern auf hohem Niveau?

Bode: Regulierungen sind umfangreich, aber nicht im Sinne der Verbraucher. Ein Beispiel ist Heumilch. In Deutschland heißt es: Unsere Kühe fressen Heu und Gras. Das ist nicht gelogen. Aber es ist die halbe Wahrheit. Und eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge. Diese Kühe dürfen zu einem Viertel mit Getreide gefüttert werden. Das ist für Wiederkäuer sehr viel. Die Gesetze sind kompliziert, sie schützen aber nicht vor Täuschung. Hunderttausende Regulierungsgesetze wären nicht nötig, wären sie für Verbraucher ausgelegt. Wir haben zwar eine Regulierung, aber die falsche.

Regulierungen für Lebensmittel seien umfangreich, aber nicht im Sinne der Verbraucher, kritisiert Thilo Bode.
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STANDARD: Der Preis sagt Ihrer Erfahrung nach nichts über Qualität aus. Was ist mit Bio, weniger Tierleid? Das alles gibt es nicht zum Nulltarif.

Bode: Was Supermärkte mit ihrer Nachhaltigkeitsnummer machen, ist Marketing im schlechtesten Sinne. Nachhaltige Produkte sind teurer. Der Schutz von Tieren und Umwelt kostet. Nachhaltigkeit kann man jedoch nicht schmecken. Darum kaufen sie viele Leute nicht. Daher muss es der Staat regulieren. Es ist absurd zu behaupten, es gäbe kein Klimaproblem, wenn sich Verbraucher anders verhalten würden. Sie machen es nicht. Keiner von uns macht es. Geht es um Gemeinwohl, dürfen wir uns nicht von individueller Nachfrage abhängig machen. Das passiert ja auch nicht bei Schulen oder Steuern. Erst recht darf es nicht bei Lebensmitteln passieren, hinter denen eine ganze Agrarindustrie steckt.

STANDARD: Sie raten dazu, im Zweifel zu Diskontern zu gehen und zu günstigeren Lebensmitteln zu greifen. Wie erklären Sie das Landwirten, die von Massentierhaltung absehen, oder kleinen Produzenten, die ohne große Supermarktketten überleben wollen?

Bode: Teuer ist nicht immer gut, billig nicht per se schlecht. Gerade bei Olivenöl sind die preiswertesten Öle oft die besten. Können Sie die Qualität der Produkte nicht unterscheiden, kaufen Sie das billigere! Im Zweifelsfall finden Sie es im Diskonter. Diese sind günstiger, da sie geringere Kosten haben. Sie sind ökologischer, da ihr Handling einfacher ist: weniger Ware, weniger Verpackung. Ich halte diese These für sehr wichtig.

STANDARD: Die Preise für Lebensmittel sind stark gestiegen. Kann man Menschen, die sparen müssen, vorwerfen, kein Biofleisch zu kaufen?

Bode: Gesunde, nachhaltige Ernährung ist ein Menschenrecht. Ist diese für weite Teile der Bevölkerung unleistbar, haben wir ein Problem der Sozialpolitik. Bio als Spezialsektor braucht es nicht. Es kann nicht sein, die Natur mit Bio nur für ein paar Privilegierte zu schützen. In Deutschland nimmt die Ernährungsarmut stark zu. Das ist ein riesiges soziales Problem. Die Zahl der Jugendlichen, die unter Diabetes Typ 2 und anderen ernährungsbedingten Krankheiten leiden, ist enorm. Die Lebensmittelpreise werden auch künftig steigen. Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion sind energieintensiv. Betreiben wir eine konsequente Klimapolitik, wird sich Energie weiter verteuern.

STANDARD: Haben Umweltorganisationen soziale Fragen zu lange vernachlässigt?

Bode: Ja, absolut. Die Umweltbewegung war eine mittelstandsbasierte. Wir haben uns bei Greenpeace früher immer gewundert, warum Gewerkschaften auf die Barrikaden stiegen, wenn wir höhere Energiepreise fordern. Wir hatten die sozialen Fragen nicht auf dem Schirm. Wer heute Politik für Umwelt und Verbraucher macht, kommt daran nicht vorbei.

"Es kann nicht sein, mit Bio die Natur nur für ein paar Privilegierte zu schützen", sagt Thilo Bode.
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STANDARD: Warum ist die Entwicklung von Bio aus Ihrer Sicht ein Flop?

Bode: Der stärkste Vorteil von Bio ist der Verzicht auf Pestizide und Gentechnik. Aber auch die Bio-Kuh stößt Treibhausgase aus. Es gibt Bio-Fruchtriegel für Kinder mit über 50 Prozent Zuckeranteil. Es gibt problematische Konservierungsstoffe wie Nitrit, das im Verdacht steht, krebserregend zu sein. Bei den Zusatzstoffen ist die europäische Bio-Gesetzgebung viel schwächer als jene bestimmter Verbände wie Demeter und Bioland. Schweinefleisch für Bio-Schwarzwälder-Schinken kann auch aus Dänemark kommen. In der Tierhaltung fehlt staatlich vorgeschriebener Gesundheitsschutz. Und viele Menschen können sich Bio nicht leisten. Wir haben hier eine Zweiklassengesellschaft.

STANDARD: Bio schreibt querbeet deutlich höhere Standards vor als konventionelle Produktion. Verlorene Liebesmüh?

Bode: Bio ist der richtige Ansatz. Wäre die europäische Landwirtschaft zu 100 Prozent biologisch, wäre dies ein Riesenfortschritt. Heile Welt gibt es aber auch hier nicht. Wer bio kauft, lebt nicht automatisch gesünder oder schützt besonders das Klima. Vor allem aber müssen es die Leute bezahlen können.

STANDARD: Lässt sich über Konsum die Welt verändern?

Bode: Verändertes Konsumverhalten spielt eine entscheidende Rolle für höhere Nachhaltigkeit. Herbeigeführt wird es aber nicht über moralische Appelle, sondern über transparente Lebensmittelgesetzgebung – und durch Preise, die ökologische Kosten widerspiegeln. Fleisch muss sich verteuern, die Tierbestände sind zu hoch. Verdoppelt sich der Fleischpreis, werden sich die Tierbestände halbieren.

STANDARD: Was halten Sie von höheren Steuern auf Fleisch?

Bode: Der Fleischpreis muss sich entsprechend der Treibhausgasbelastung erhöhen. Die Abgabe wird zwischen Verbrauchern und Landwirtschaft aufgeteilt. Um die europäische Landwirtschaft zu erhalten, gehört sie auch für Importeure aus Drittstaaten erhöht. Das ist meine Auffassung einer Reform. Europas Agrarpolitik jedoch will nur immer noch mehr Subventionen.

STANDARD: Sie sehen Industrie und Handelskonzerne unsere Einkaufsgewohnheiten lenken. Sprechen Sie Konsumenten damit nicht ihre Mündigkeit ab?

Bode: Im Gegenteil. Der Staat hält uns für unmündig und überlässt uns unserem Schicksal. Mündig macht man Bürger erst durch höhere Transparenz.

STANDARD: Fleisch nur in Maßen zu essen, Einblick in die Herkunft der Lebensmittel zu verlangen, vorgesetzte Siegel zu hinterfragen – lässt sich damit nicht sehr wohl viel bewegen? Wollen Sie Konsumenten ganz aus der Verantwortung entlassen?

Bode: Was der einzelne Verbraucher macht, ist nicht umsonst. Ich tue etwas für mich, ich verhalte mich moralisch, um Umwelt und Tieren nicht zu schaden, mache etwas für meine Gesundheit, für meinen persönlichen Genuss, gehe als gutes Beispiel voran. Nur darf ich mich nicht der Illusion hingeben, damit Märkte zu verändern. Zu sagen, es kommt auf die Einzelnen an, ist Ausrede jener, die am bestehenden System festhalten wollen. Mit dem Argument, die Leute müssen vernünftig sein und sich moralisch verhalten, können wir keine Gesellschaft organisieren. (Verena Kainrath, 1.10.2023)