Mindestens 84.000 der 120.000 ethnischen Armenier haben die Region Bergkarabach schon verlassen. Der Exodus wird sich wohl fortsetzen.
AFP/SIRANUSH ADAMYAN

In Bergkarabach hat der Exodus begonnen. Rund 89.000 Menschen sind auf der Flucht aus der "Republik Arzach", wie sie ihr international nicht anerkanntes Land nennen. Manche werden in ihrer Heimat ausharren wollen, gemäß dem Diktatfrieden Bakus müssten die dort lebenden Armenier dann aber die Staatsbürgerschaft Aserbaidschans annehmen. Das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) teilte derweil mit, man schließe nicht aus, dass alle bisherigen Bewohner der Kaukasus-Region nach Armenien kommen werden. Bisher sind demnach mehr als 100.000 Geflüchtete in Armenien angekommen. Man müsse sich auf bis zu 120.000 Menschen vorbereiten.

Der Konflikt reicht weit zurück, bis in die Zeiten vor der Sowjetunion. Schon damals wollte Bergkarabach unabhängig sein. Dann wurden Armenien, Aserbaidschan und auch Bergkarabach Teil der Sowjetunion. Ende der 80er-Jahre, in der Endphase, als das Riesenreich zerfiel, brach der Konflikt erneut aus. Viele Staaten erklärten sich für unabhängig, die Grenzziehungen waren teils willkürlich. Armenien und Aserbaidschan wurden eigene Staaten, Bergkarabach wollte das 1991 auch werden. Doch die "Republik Arzach" wurde niemals international anerkannt und völkerrechtlich Aserbaidschan zugeschlagen.

Eingefrorener Konflikt

Die Folge war zwischen 1992 bis 1994 der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region. 20.000 Tote auf beiden Seiten, Flucht und Vertreibung. Schließlich ein brüchiger Waffenstillstand, zu einem Friedensabkommen kommt es nie. Der Streit um Bergkarabach wird zum "eingefrorenen Konflikt". Derartige Konflikte gibt es viele am Rande der ehemaligen Sowjetunion.

Region Berg-Karabach vor dem Ende

Völkerrechtlich aber war Aserbaidschan im Recht, zumal die Karabach-Armenier über ihre Region hinaus weitere aserbaidschanische Provinzen besetzt hatten. Mit Unterstützung Armeniens, dessen Schutzmacht Russland damals noch fest an der Seite Eriwans stand. 2020 dann der nächste Krieg. Das jetzt hochgerüstete Aserbaidschan, unterstützt von der Türkei, eroberte weite Teile der Region zurück. Wieder tausende Tote, wieder Flucht und Vertreibung. In der Folge agierten russische Soldaten als Friedenstruppe. Doch einen echten Frieden gab es nicht. Am Stadtrand von Baku leben heute noch aserbaidschanische Flüchtlinge, vertrieben von Armeniern im Krieg Anfang der 1990er-Jahre. Sie könnten jetzt zurück, doch ihre Häuser sind zerstört, ihre Heimat vermint.

Neue Vorzeichen durch Ukrainekrieg

Mit dem Ukrainekrieg änderte sich weltpolitisch die Lage. Russland braucht nun Aserbaidschan, will Handelswege in Richtung Iran aufbauen. Und Russland braucht die Türkei, die Schutzmacht Aserbaidschans. Die Sanktionen des Westens gegen Moskau trägt das Nato-Land nicht mit. Über die Türkei kommen außerdem sanktionierte Waren nach Russland. Und die EU? Auch sie braucht Aserbaidschan, von dort kommt Gas, das aus Russland nicht mehr importiert wird.

Baku sah jetzt seine Chance, hoffte, dass sich Russland, die Schutzmacht Armeniens, nicht allzu stark engagieren würde. "Russlands zögerliches Agieren gegenüber Aserbaidschan zeugt offensichtlich von der Angst, das Land als wichtigen Wirtschaftspartner zu verprellen und den dahinterstehenden türkischen Verbündeten zu provozieren", meint Nadja Douglas vom Berliner Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien.

Es begann mit der Schließung des Latschin-Korridors, der einzigen Straßenverbindung zwischen Armenien und Bergkarabach. Die russische Friedenstruppe reagierte nur halbherzig. Seitdem gehörte Hunger zum Alltag in Bergkarabach. Es gab buchstäblich Mangel an allem, erzählen die Einwohner von Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach. Nahrungsmittel fehlten, auch Medikamente. Schlangen vor den Geschäften wurden immer länger.

Der jüngste Krieg dauerte nur wenige Stunden. Armenien spricht von "ethnischen Säuberungen". Aserbaidschan hingegen bezeichnet die Militäraktion als "Anti-Terror-Maßnahme".

Die Karabach-Kämpfer hatten der überlegenen Armee Aserbaidschans nichts mehr entgegenzusetzen, kapitulierten. Sie mussten ihre Waffen abgeben. Per Dekret verkündete diese Regierung das Ende Bergkarabachs zum 1. Jänner 2024.

Zurückhaltende Hilfe

Jetzt kommen in der armenischen Grenzstadt Goris Tag für Tag tausende Flüchtlinge an. Mit Pkws, Lkws, sogar mit Traktoren und Baumaschinen. Ein paar Habseligkeiten haben sie retten können, den Rest mussten sie zurücklassen. Auf Armenien rollt eine Flüchtlingswelle zu. Internationale Hilfe ist nötig. Doch die tröpfelt, wenn sie überhaupt kommt. Außenminister Alexander Schallenberg will zwei Millionen Euro aus Mitteln der Austrian Development Agency zur Verfügung stellen.

Andere EU-Länder sind ähnlich zurückhaltend, auch in Sachen Sanktionen gegen Aserbaidschan. Auf EU-Ebene seien solche Maßnahmen Teil der Beratungen, betonte ein Sprecher des deutschen Außenministeriums am Freitag in Berlin. Er verwies außerdem auf eine EU-Beobachtermission an der Grenze zwischen beiden Ländern.

Viele Menschen in der armenischen Hauptstadt Eriwan befürchten, dass die Welt sie und ihr Elend vergessen wird. Doch die Karabach-Armenier werden ihre Heimat zurückerobern wollen. Irgendwann. Es ist noch nicht zu Ende. Das Leid auf beiden Seiten wird weitergehen. (Jo Angerer, 30.9.2023)