US-Präsident Joe Biden und Russlands Präsident Wladimir Putin
Russlands Präsident Wladimir Putin benutzt den Westen und die Nato-Osterweiterung als Vorwand für seine Taten, US-Präsident Joe Biden muss dagegenhalten.
IMAGO/ITAR-TASS

Wie war das mit der Osterweiterung der Nato vor über 20 Jahren ? Die US-Historikerin Mary Elise Sarotte von der School of Advanced International Studies an der Johns Hopkins University in Washington hat für ihr eben auf Deutsch erschienenes Buch Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung (C. H. Beck) tief in den Quellen geforscht. Sarotte sprach auch beim Humanities Festival des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen in Wien.

STANDARD: Frau Professorin Sarotte, in Österreich glauben viele Putin, wenn er sagt, er musste die Ukraine angreifen, weil ihm die Nato so nahe gerückt sei. In Ihrem Buch geht es darum, ob die USA oder die Nato der UdSSR bzw. Russland versprochen hätten, die Nato nicht nach Osten zu erweitern, und gelogen haben.

Sarotte: Bevor ich diese Frage beantworte, muss ich sagen: Ich glaube, es gibt überhaupt kein Argument dafür, die Ukraine anzugreifen. Auch wenn er ein Argument hätte, wäre es nicht die Lösung, die Ukraine anzugreifen. Also wenn er etwas gegen die Nato hat, dann muss er das mit der Nato klären und nicht werdende Mütter in Krankenhäusern beschießen. Also ich möchte ganz klar am Anfang meine Hochachtung für den Mut der Ukrainer ausdrücken und meine Verachtung für das menschenfeindliche Verhalten Putins.

STANDARD: Ich habe sozusagen nur referiert, eine Meinung, die es in Österreich und auch in Deutschland gibt.

Sarotte: Am besten trennen wir die Frage der Nato-Erweiterungsgeschichte von der Frage der Ukraine. Wenn wir jetzt zurück in die Geschichte gehen, kann ich also Historikerin aus Quellen berichten, was damals geschehen ist. Also stellen Sie sich mal ein Spektrum vor. Auf der linken Seite ist der amerikanische Glaube, das Thema sei nie aufgekommen. Auf der rechten Seite des Spektrums ist die harte sowjetische Haltung: Wir sind absolut betrogen worden. Aufgrund der Quellen kann ich sagen, es stimmt weder das eine noch das andere. Wie so oft liegt es dazwischen. Manche meiner US-Gesprächspartner haben gesagt, okay, stimmt, das Thema kam auf, aber nur in Bezug auf die damalige DDR. Aber das stimmt auch nicht. Man dachte schon ziemlich früh an Osteuropa. Andere sagen, das, was schwarz auf weiß im Vertrag (der sogenannte Zwei-plus-vier-Vertrag, Anm.) steht, erlaubt es, die Nato zu erweitern. Laut den Quellen stimmt das.

STANDARD: Also die Russen haben zugestimmt.

Sarotte: Nicht nur das. Das ist ein Vertrag, also ein rechtlich bindender Vertrag. Und es ist klar, die Nato darf sich jenseits der Frontlinie vom Kalten Krieg, sprich die Frontlinie vom Jahr 1989, sprich die Linie mitten durch Deutschland, über diese Linie hinaus Richtung Osten erweitern. Moskau hat diesen Vertrag nicht nur unterschrieben, nicht nur ratifiziert, sondern auch die damit verbundenen finanziellen Zuschüsse einkassiert, also unterschrieben, ratifiziert und kassiert.

STANDARD: Deutschland hat damals Milliarden gezahlt.

Sarotte: Das war der Preis. Es gibt russische Gesprächspartner, die zugaben, wir haben das nicht schriftlich erhalten. Laut den Quellen sagte der damalige US-Außenminister James Baker aber Gorbatschow als Gedankenspiel während der Verhandlungen: Wie wäre es, wenn Sie Ihre Hälfte der DDR freigeben würden? Und wir würden Ihnen sagen, die Nato erweitert sich also "not one inch" (keinen Zoll oder Schritt weiter) nach Osteuropa.

STANDARD: Aber der damalige Präsident George Bush sen. hat James Baker zurückgepfiffen und gesagt: Nein, wir erweitern.

Sarotte: "Zurückgepfiffen" ist ein gutes Wort. Bush hat nicht sofort gesagt, wir erweitern, sondern er wollte seine Optionen offenlassen. Als Baker von dieser Reise zurück nach Washington kam, sagte ihm Bush: Du hast dich da zu weit aus dem Fenster gelehnt. Die Nato hat gerade den Kalten Krieg gewonnen. Warum sollen wir um Gottes willen überhaupt etwas daran ändern?

STANDARD: Dann gibt es aber noch die Osteuropäer selbst. Die sagten, wir wollen in die Nato, denn wir kennen und fürchten die Russen.

Sarotte: Die neuen Demokratien in Osteuropa haben alle das Selbstbestimmungsrecht. Ich glaube an das Selbstbestimmungsrecht. Sie wollten in die Nato, und die Nato hat das Recht, sie aufzunehmen.

Mary Elise Sarott
Mary Elise Sarotte von der Johns Hopkins University, Washington.
David Elmes / Harvard University

STANDARD: Aber einige Jahre später hat man im Westen doch gedacht, man will die Sowjets oder die Russen, also damals schon Boris Jelzin, ja nicht total brüskieren. Und so kam es zur sogenannten Nato-Russland-Grundakte von 1997, in der steht, es werden keine nennenswerten Nato-Truppen in den neuen Nato-Mitgliedsstaaten in Osteuropa stationiert und auch keine Atomwaffen.

Sarotte: Aber diese Grundakte sind kein Vertrag, das heißt, nicht rechtlich bindend.

STANDARD: Damit kommen wir zu Putin, der das alles als Niederlage für Russland und sein Imperium betrachtet.

Sarotte: Ich habe den Eindruck, Putin ist während der Pandemie in Quarantäne gesessen, hat Geschichtsbücher gelesen und gegrübelt: Da hat Russland verloren, das haben wir schlucken müssen. Und jetzt will er die Geschichte zurückspulen, aber diesmal mit dem Sieg Russlands am Ende. Kurz vor dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat Putin im Dezember 2021 zwei sogenannte Verträge zirkulieren lassen. Das waren eigentlich keine Verträge, sondern Ultimaten. Der Westen sollte alle Nato-Truppen aus den neuen Nato-Mitgliedsstaaten zurückziehen. Es hieß, ihr unterschreibt dieses Ultimatum, oder ich greife die Ukraine an.

STANDARD: In Ihrem Buch meinen Sie, man hätte sich damit begnügen können, die Nato-"Partnerschaft für den Frieden" zu errichten, eine lockere Verbindung, und zwar inklusive der Ukraine und Russlands, nicht unbedingt mit der Artikel-5-Beistandsverpflichtung.

Sarotte: Ich bin nicht gegen die Nato-Osterweiterung, sondern im Gegenteil, ich halte sie für richtig. Das Problem war meines Erachtens die Art, wie sich die Nato erweiterte. In meinen Quellen habe ich entdeckt, dass es damals darüber eine riesige, hitzige Diskussion gab. Manche sagten, wir müssen sorgfältig erweitern, nicht nur an die mittel- und osteuropäischen Staaten denken, sondern auch an die Ukraine und Russland. Also das Gute an der Partnerschaft für den Frieden war, dass sie ambivalent war.

STANDARD: Allerdings ging das Vertrauen in Jelzin verloren, als er selbst zu Gewalt griff.

Sarotte: Genau. Er hat das eigene Parlament 1993 durch Panzer beschießen lassen, und er hat 1994 in Tschetschenien einen furchtbaren Krieg begonnen. Da wurde die Idee des "Alles oder nichts" — die schon vorher benutzt worden war — bei der Nato-Osterweiterung stark.

STANDARD: Wenn man den Imperialismus von Putin betrachtet, hätte diese Partnerschaft für den Frieden überhaupt je eine Chance gehabt?

Sarotte: Darüber kann ich nur spekulieren. Ich will nur sagen, die Welt sähe jetzt besser aus — was nicht schwer ist, da unser heutiger Zustand tragisch ist. Ich finde, weder die Russen noch wir noch die Nato haben das Tauwetter der 90er-Jahre richtig geschätzt. (Hans Rauscher, 29.9.2023)