Hochwasser in Innsbruck
Die Unwetter im heurigen Jahr mit einigen der wärmsten Sommermonate seit Messbeginn sollten ein Weckruf sein.
APA/EXPA/ERICH SPIESS

Die fortschreitende Erderwärmung habe einen Punkt erreicht, an dem die angestrebte Klimaneutralität bis Mitte dieses Jahrhunderts nicht garantiert werden könne, nicht gewiss sei, dass Kipppunkte halten und das Ökosystem nicht kollabiert. "Klimaneutralität ist von gestern. Wir müssen das Klima restaurieren", sagte der renommierte deutsche Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber (73) beim Inspire Energy Summit, der von Österreichs größtem Stromerzeuger Verbund diese Woche in St. Wolfgang veranstaltet wurde.

"Ich habe 40 Jahre mit der Klimaproblematik gut geschlafen, jetzt nicht mehr", sagte der mittlerweile emeritierte Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Mit 1. Dezember wechselt der studierte Physiker Schellnhuber als Generaldirektor an das Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) nach Laxenburg (NÖ).

Hans Joachim Schellnhuber, renommierter deutscher Klimaforscher
Hans Joachim Schellnhuber ist Physiker und beschäftigt sich seit 40 Jahren mit Klimafragen.
imago images/Jürgen Heinrich

Der Grund dafür, dass er keine ruhige Minute mehr habe hinsichtlich des Klimas, seien die Einschläge, die immer näher kommen. Das Sturmtief Daniel, das heuer von Nord nach Süd gezogen ist und an der libyschen Küste katastrophale Verwüstungen mit rund 20.000 Toten verursacht hat, sei ein Weckruf. Amerikanische Forscher haben dafür den Begriff Medicane geprägt, Mediterranean Hurricane – "etwas, was es in unseren Annalen eigentlich nie gab, sagte Schellnhuber.

Ein tropischer Wirbelsturm bilde sich, wenn die Oberflächentemperatur des Wassers über 27 Grad Celsius liegt, das wisse man von Hurrikans, die in der Karibik auftreten. Das Mittelmeer habe dieses Jahr aber über Monate Durchschnittstemperaturen von 28 Grad gehabt – ein Alarmsignal. Dazu der wärmste Juni, Juli, August, September seit Beginn der Messungen. "Und es wird weitergehen", sagt Schellnhuber voraus.

Photosynthese nützen

Angesichts dieser Brisanz plädiert der Klimaforscher eindringlich, Maßnahmen zu setzen. Maßnahmen, die den Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid (CO2) rascher bremsen, kombiniert mit Anstrengungen, das bereits in hoher Konzentration in der Atmosphäre befindliche CO2 zu binden und damit den Treibhauseffekt langfristig zu beheben. Die beste und im Endeffekt wohl auch günstigste Methode sei, auf die Photosynthese, "die wichtigste Innovation, seit es Leben auf der Erde gibt", wie Schellnhuber sagt, zu setzen.

Ein Aufforstungsprogramm gigantischen Ausmaßes mit annähernd 100 Milliarden Bäumen könnte die Menschheit dem Ziel näher bringen, künftigen Generationen ein Überleben auf diesem Planeten zu ermöglichen. Schellnhuber und seinen Forscherkollegen und -kolleginnen schwebt dabei vor, dass die Bäume auf degradierten Flächen gepflanzt werden, wo derzeit so gut wie keine CO2-Bindung stattfindet, etwa in der Sahelzone, in Teilen Lateinamerikas, im Mittelmeerraum oder in Schottland, wo viele Bäume von früheren Generationen dem Schiffbau geopfert wurden.

Geringere Kosten

"Ein Baum, am richtigen Ort gesetzt, kostet vielleicht zehn Euro. Er kann aber zehn Tonnen CO2 speichern", rechnet Schellnhuber vor. Zum Binden einer Tonne CO2 reiche somit ein Euro, was verglichen mit 500 bis 1000 Dollar, die das Herausholen von einer Tonne CO2 direkt aus der Atmosphäre mit heute zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmitteln kostet, äußerst günstig sei.

Was aber, wenn die Bäume nach 50, 60 oder 80 Jahren ihr Klimaxstadium erreicht haben? Gerade dann würden sie unter dem Einfluss der Erderwärmung zu einer Quelle von CO2 – Stichwort Waldbrände. Deshalb müsse das Aufforstungsprogramm sinnvollerweise einhergehen mit einem Paradigmenwechsel beim Bauen: Mehr Holzhäuser statt solche aus Ziegel oder Beton. Damit hätte man eine CO2-Senke, die als Bauholz in Gebäuden steckt, Wälder könnten immer wieder nachwachsen und zusätzliches CO2 binden.

Das dauert 200 Jahre

Die Restaurierung des Klimas mittels forcierter Aufforstung sei ein Projekt, das etwa zwei Jahrhunderte beanspruche. Dennoch müsse man das Thema angehen. "Viele andere Möglichkeiten haben wir nicht", sagte Schellnhuber.

Derzeit deute nichts darauf hin, dass es gelingen könnte, das im Pariser Klimaabkommen vereinbarte Zwei-Grad-Ziel einzuhalten. Wenn es zumindest gelinge, den Zeitraum auf vier oder fünf Jahrzehnte zu beschränken, in dem die Durchschnittstemperatur auf der Erde um mehr als zwei Grad über die zu Beginn der industriellen Revolution gemessenen Temperaturen hinausschießt, könne man "beten, dass nichts kippt".

Einiges wird kippen

Einiges werde zweifellos kippen, die Korallenriffe etwa würden schon bei einem Temperaturanstieg um 1,5 Grad großflächig bleichen und unwiederbringlich verlorengehen. Und so wie es aussieht, wird im heurigen Jahr diese ominöse 1,5-Grad-Linie zumindest touchiert, in den kommenden Jahren dann zweifellos durchstoßen. Das deshalb, weil die Erde wie ein großer Tanker sei und es unglaublich lange dauere, bis ein Bremsmanöver greife, sagte Schellnhuber.

Beim grönländischen Eisschild bestehe noch Hoffnung, dass es nicht komplett abschmilzt, beim Golfstrom, der auch das Klima in Europa massiv beeinflusst, sei es schon fraglicher, ob seine Abschwächung noch verhindert werden könne. (Günther Strobl, 30.9.2023)