Es war Samstagnachmittag, als sich etliche serbische Einheiten an Artillerie, Panzern und Soldaten von der kosovarischen Grenze zurückzogen. Dem vorausgegangen war ein dramatischer Appell der USA an Serbien, die Armee nach Belgrad zu beordern. Diese hatte schon zehn Tage zuvor damit begonnen, sich Richtung Süden – also Richtung Kosovo – zu bewegen. Auch der Außenbeauftragte der EU Josep Borell hatte sich am Samstag sehr "besorgt" über die Verstärkung der Präsenz der serbischen Armee gezeigt. „Die Streitkräfte sollten sich zurückziehen", forderte Borell.

Serbian President Aleksandar Vucic speaks during an interview with Reuters in Belgrade, Serbia, September 28, 2023. REUTERS/Zorana Jevtic
REUTERS/ZORANA JEVTIC

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić sagte alsdann der "Financial Times", dass die serbische Armee nicht in den Kosovo einmarschieren werde, die Anzahl der sich an der Grenze befindenden Soldaten nehme ab. Vučić erklärte allerdings nicht, weshalb die Armee überhaupt mit Panzern und Artillerie an die Grenze geschickt hatte.

Einige erfahrene Beobachter der Politik des serbischen Staatschefs meinten, es handle sich um eines seiner üblichen Manöver. Vučić eskaliere immer wieder die Situation, um sich nachher als jener bedeutende Politiker darzustellen, der zur Deeskalation beitrage. Sicher ist: Dafür bekommt er bisher auch regelmäßig Lob.

Ende der Appeasement-Politik

Zur Zeit erhält er aber eher Warnungen und Aufforderungen, zu deeskalieren, sowohl vom Weißen Haus als auch aus Brüssel. Der versuchte Terroranschlag im Norden Kosovos, bei dem ein Polizist von den serbischen Milizen getötet wurde, wirkt nämlich noch nach. Der Westen konnte zuletzt seine Appeasement-Politik gegenüber Vučić angesichts der Gewalt und der offensichtlichen Aggression nicht mehr beibehalten.

Der Anführer der nach neuesten Erkenntnissen etwa 80 Mann umfassenden Terror-Truppe, Milan Radoičić, der bei dem Anschlag vergangenen Sonntag verletzt wurde und mit dem Auto Richtung Serbien floh, ließ mittlerweile über seinen Anwalt mitteilen, dass er die Verantwortung für die Operation übernehme und dass die serbischen Behörden nichts damit zu tun hätten. Ganz offensichtlich muss er Vučić und sein Regime schützen. Deshalb trat er auch als Vize-Chef der von Vučić kontrollierten Partei Srpska Lista im Nord-Kosovo zurück.

Die kosovarische Polizei, die am Samstag wieder viele Waffen und Ausrüstung der illegalen Miliz im Norden Kosovos beschlagnahmte, veröffentlichte auch Video-Aufnahmen der Villa von Radoičić. Der Milizen-Boss – der auch der "serbische Prigoschin" (ein in Ungnade gefallener und dann getöteter russischer Söldnerführer, Anm.) genannt wird – residiert in einem millionenschwerem Anwesen mit Swimmingpool und schickem Fuhrpark. In nächster Zeit wird er dorthin wohl nicht zurückkehren können. Denn die kosovarische Polizei würde ihn sofort verhaften.

Serbische Geheimdienst-Operation?

Der amerikanische Botschafter in Pristina, Geoffrey Hovenier, sagte in einem Interview mit der britischen BBC, dass bestimmte Strukturen hinter dem Terroranschlag im Kosovo steckten und dass die gefundenen Waffen darauf hindeuten, dass die Angreifer diese nicht aus eigener Kraft hätten beschaffen können. Zahlreiche Beobachter vermuten hinter dem versuchten Anschlag eine serbische Geheimdienst-Operation, die das Ziel hatte den Kosovo zu destabilisieren, um möglicherweise einen Einmarsch von Truppen zu legitimieren.

Der kosovarische Premier Albin Kurti erklärte indes, dass "in Belgrad heute der kleine Putin Präsident ist" und dass die Angreifer im Dorf Banjska vergangenen Sonntag über Ausrüstung verfügten, die in Serbien hergestellt worden sei und nicht auf dem freien Markt gekauft werden könne. Logistik, Ausrüstung und Vorbereitung kämen aus Belgrad. Radoičić habe auch politische Befehle von Präsident Vučić erhalten. "Ich habe absolut keinen Zweifel daran, dass Radoičić nur ein Vollstrecker ist. Derjenige, der diesen terroristischen, kriminellen Angriff auf unser Land geplant und angeordnet hat, um unsere territoriale Integrität, nationale Sicherheit und Staatssicherheit zu verletzen, ist kein anderer als Präsident Vučić."

Die Angreifer seien paramilitärische Berufsgruppen, die in die organisierte Kriminalität verwickelt seien, meint Kurti. "Sie haben als Politiker angefangen, Kriminelle zu werden, und jetzt wollen sie ihr Verbrechen politisieren“, so der Premier. "Sie repräsentieren nicht einmal die Serben aus dem Kosovo, und, bei Gott, ich muss sagen, sie repräsentieren nicht einmal das serbische Volk. Sie repräsentieren das Kapital, das sie dem Volk genommen haben, indem sie viele Jahre lang in die organisierte Kriminalität verwickelt waren; und sie wollen abwechselnd einen Monat lang den Kosovo, dann Montenegro, dann Bosnien und Herzegowina destabilisieren, weil sie wollen, dass wir alle in die 1990er Jahre zurückkehren in einer Zeitmaschine."

"Klare Kante zeigen"

Es handle sich um dieselben Leute, die Ende Mai die Kfor angegriffen und 30 Soldaten teils schwer verletzt haben. Zu der Truppe zählen Kurti zufolge auch Leute, die zum "Zivilschutz" gehörten. Er forderte die USA, die Nato, die EU und Großbritannien auf, klare Kante zu zeigen. Die Milizen hätte enge Verbindungen zu den Nachtwölfen und der Wagner-Truppe haben. "Sie sind also pro-russisch, sie hassen die Ukraine und wollen, dass Putin gewinnt", erklärte der Regierungschef.

Kurti setzte sich auch für eine stärkere Nato-Präsenz im Kosovo ein. Es gehe aber nicht darum, die kosovarische Polizei zu ersetzen; sondern darum, gemeinsam mit an der Grenze zu patrouillieren. "Das ist unsere Bitte, und ich hoffe, dass die Nato positiv auf diese unsere wichtigste Sicherheitsforderung reagieren wird."

Interessant ist, dass es trotz der veränderten Lage weiterhin internationale Lobbyisten gibt, die fordern, dass die kosovarischen Sicherheitskräfte sich aus dem Norden Kosovos zurückziehen. Wenn sie dies allerdings tun würden, würden sie nicht nur das Gewaltmonopol aufgeben, sondern auch ein Signal geben, dass die territoriale Integrität Kosovos nicht gesichert sei.

Gefahr für Souveränität

Zu diesen Lobbyisten gehört der albanische Premier Edi Rama, der seit Jahren mit Vučić kooperiert und mit ihm gemeinsam vor ein paar Jahren einen "Gebietstausch" durchsetzen, also neue Grenzen nach ethnischen Kriterien auf dem Balkan ziehen wollte – was in der Folge die Integrität und Souveränität von Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien und Montenegro zerstören hätte können.

Es gibt auch Leute im Kosovo, die sich dafür einsetzen. Einer der wichtigsten Proponenten dieser Idee ist der frühere Präsident Hashim Thaçi, der wegen des Verdachts von Kriegsverbrechen in Untersuchungshaft sitzt. Er wird von Rama unterstützt. Und es gibt auch einige Amerikaner, etwa den Ex-Trump-Gesandten Richard Grenell, sowie ein paar Europäer, die sich dafür einsetzen und deshalb fordern, die kosovarischen Sicherheitskräfte sollten den Norden Kosovos ganz der Nato überlassen.

Der Konflikt um den Norden Kosovos ist also keineswegs nur eine Sache zwischen Serbien und Kosovo – und es geht auch nicht nur um die Einmischung des Kremls, der sich sicher über eine Ablenkung von der Ukraine freut, sondern auch um westliche Akteure, die weiterhin die Souveränität und territoriale Integrität Kosovos infrage stellen.

Deshalb meinen einige Beobachter, dass einer der wichtigen Nicht-Anerkenner-Staaten innerhalb der EU – etwa Spanien oder Griechenland – ein Zeichen für den Kosovo und seine Integrität setzen und den Staat in der heiklen Lage anerkennen sollten. Dies würde auch ein Signal sein, dass die Grenzen in der Region nicht verändert werden dürfen. Denn völkisch ideologisierte serbische Nationalisten in Bosnien-Herzegowina wollen auch in diesem Balkan-Land die Grenzen verändern und damit den Staat zerstören.

Tennis-As Djoković sorgt für Eklat

Wie sehr die Propaganda in Serbien greift, zeigt auch die Reaktion des Tennisspielers Novak Djoković. Er teilte auf Instagram ein Bild von einer Trauerfeier in Belgrad für die drei Terroristen, die im Kosovo von der kosovarischen Polizei während ihres Angriffs getötet worden waren. In ganz Serbien wurde von staatlicher Seite ein Trauertag für die Milizionäre abgehalten. Djoković' Vater kommt aus dem Kosovo und ist stark von dem serbisch-nationalistischen Narrativ geprägt. Aber auch Sohn Novak, der Tennis-Star, veröffentlicht immer wieder Stellungnahmen: Erst vergangenen Mai kritzelte er auf eine Aufnahme: "Kosovo ist das Herz Serbiens".

Djoković' Verhalten ist aber in Serbien überhaupt nichts Außergewöhnliches, sondern er liegt damit im Mainstream. Die meisten Bürgerinnen und Bürger in Serbien glauben an die Propaganda der Regierung und der Regierungs-Medien, sie halten sie für die Wahrheit. (Adelheid Wölfl, 1.10.2023)