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Wie geht man bei Wikipedia damit um, dass die Inhalte von Google und ChatGPT verwendet werden? Auch diese Frage lässt bei der Gemeinschaft die Köpfe rauchen.
APA/AFP/LIONEL BONAVENTURE

Da sitzen sie, die Verwalter und Verwalterinnen der derzeit fast drei Millionen Artikel der deutschsprachigen Wikipedia. Rund 250 Wikipedianer und Wikipedianerinnen – wie sie sich selbst nennen – haben sich vergangenes Wochenende im Linzer Wissensturm getroffen, um zu besprechen, wie es mit Wikipedia weitergehen soll. Wie auch das Schreiben von Artikeln: unbezahlt. Die 13. Wiki Con fand dieses Jahr zum zweiten Mal in Österreich statt. Es geht um die Habsburger, um Urheberrecht, Wissensgerechtigkeit und künstliche Intelligenz (KI). Dazwischen gibt es Zwetschgenstrudel und Schupfnudeln – auch vegan.

Wie Umgehen mit der Verantwortung?

Beim Panel "Ein Blick in die Zukunft" am Samstag geht es emotional her. Dass Wikipedia gesellschaftliche und politische Relevanz hat, wird im Zeitalter der Desinformationen und Propaganda immer deutlicher. Viele im Raum sind schon lange mit dabei, einige seit 2001, als die ersten Artikel geschrieben wurden. Jeder und jede schrieb damals über die eigene Passion: Bahnhöfe, die lokalen Fußballvereine oder eben die Habsburger. "Wir haben unser Ding gemacht, dann ist es etwas Großes geworden", fasst eine Stimme aus dem Publikum treffend zusammen und erntet Applaus. Etwas Großes ist wohl noch untertrieben, die deutschsprachige Wikipedia hat allein seit Anfang dieses Jahres acht Milliarden Seitenaufrufe und zählt zu den zehn meistbesuchten Websites im Land. Aber wie Umgehen mit dieser Verantwortung? "Ein großer Teil sträubt sich gegen Veränderung", kommt als Vorwurf aus dem Auditorium. Und dabei steht so viel an.

Immer weniger Autoren und Autorinnen

Wissen auf Wikipedia wird ausverhandelt, ist nie abgeschlossen und bleibt umstritten. Durch die ständige Interaktion der Autoren und Autorinnen wird ein möglichst neutraler Standpunkt angestrebt. Dieser Ansatz macht Wikipedia als Wissensenzyklopädie so einzigartig und wertvoll. Nur: Was tun, wenn sich immer weniger Personen an diesem Prozess beteiligen?

"Wenn wir so bleiben, wie wir heute sind, dann gibt es uns irgendwann nicht mehr."

Eine der Hauptsorgen der Community: Die deutschsprachige Wikipedia verzeichnet seit 2007 einen Rückgang der Autoren- und Autorinnenschaft. Ein Blick in den Raum macht deutlich, dass die nächste, junge Generation bisher noch fehlt. Außerdem beklagen die Wikipedianer und Wikipedianerinnen die sich türmende Arbeit. Denn Artikel müssen nicht nur neu geschrieben werden, sondern vor allem laufend aktualisiert und gegen Vandalismus verteidigt werden.

Weiß, männlich, lang dabei: Welches Wissen repräsentiert Wikipedia?

Hinzu kommt: Der typische Wikipedianer ist männlich, weiß, über 50 und Akademiker. Dieser Fakt ist fast schon ein Running Gag auf der Wiki Con. Dass das ein Problem für ein plurales Wissensverständnis ist, ist vielen bewusst. Gerade marginalisiertes Wissen findet so kaum Eingang in die Wikipedia, auch wenn Projekte und Gruppen wie Femnetz und Re·shape stetig daran arbeiten. Das strenge Selbsturteil während des Zukunftspanels lautet: Wikipedia sei das beste Beispiel für exkludierende Offenheit. "Wenn wir so bleiben, wie wir heute sind, dann gibt es uns irgendwann nicht mehr", warnt eine weitere Stimme.

KI als neuester Konkurrent

Und dann gibt es noch den Elefanten im Raum: künstliche Intelligenz. "Vielleicht war es eine Scheißidee, Open Source zu machen", wird bei dem Panel zu KI scherzhaft in dem Raum gestellt. Natürlich nicht, da sind sich alle einig. Das freie Wissen ist der Grundstein von Wikipedia. Aber die Frustration und Ratlosigkeit ist unverkennbar. Googles Dienste greifen seit Jahren Inhalte von Wikipedia ab. Auch bei der Entwicklung von Sprachmodellen wie ChatGPT werden Trainingsdaten der Projekte genutzt. "Für die ist das ein Geschenk", sagt mir der Wikipedianer und Panelleiter Kevin Golde. Nachweisen kann man das aber nicht. Das Problem laut Golde: "Die Menschen kommen an die Infos, die in Wikipedia stehen, ohne die Seiten der Wikipedia selbst aufzurufen."

"Vielleicht war es eine Scheißidee, Open Source zu machen."

Und gerade ChatGPT greift Leser und Leserinnen ab. Es ist einfacher, sich eine schnelle Antwort geben zu lassen, als sich mühsam einen ausdifferenzierten Artikel durchzulesen. Das gefährdet auf mittelfristige Sicht auch die – rein auf Spenden basierte – Finanzierung von Wikipedia. Mal abgesehen von dem Zynismus dahinter, dass Tech-Unternehmen mit Wissen Geld verdienen, welches über die letzten 20 Jahre mühsam und freiwillig zusammengeschrieben wurde, um es für alle zugänglich zu machen. Kevin Golde fragt: „Wollen wir profitorientierten Unternehmen alleine die Entwicklung von wissensvermittelnden KIs überlassen?" Seine Antwort lautet: Nein, aber um konkurrenzfähig zu bleiben, müsse einiges passieren. Ein Vorschlag ist die Arbeit an einem eigenen Sprachmodell.

ChatGPT selbst wird auf der Konferenz übrigens eher belächelt. Zu wenig wisse das Sprachmodell, und Artikel schreiben könne es erst recht nicht. Das wird vermutlich nicht so bleiben. Jedoch scheint es, als würde dieser Gedanke den Stolz der Wikipedianer und Wikipedianerinnen zu sehr verletzen, als dass sie an dieser Stelle weiter darüber diskutieren wollen.

Trotzdem gute Stimmung

Die Stimmung auf der Wiki Con ist trotzdem gut – viel zivilisierter als auf so mancher Wikipedia-Diskussionsseite, wie ich mir sagen lasse. Persönlich lässt sich eben besser klären, dass "Wissenschafter" kein Rechtschreibfehler ist, der korrigiert werden muss. Von dem toxischen Umgangston, der der Community gerne nachgesagt wird, ist wenig zu spüren. Es wird viel, lang und gerne erklärt auf der Wiki Con – und das auch ungefragt. Aber diesem Charakterzug haben wir es schließlich auch zu verdanken, dass wir vom Schweinekonflikt bis zur parlamentarischen Schnupftabakdose alles nachschlagen können.

Am Ende ist es wichtig zu verstehen: Wikipedia ist nicht nur die größte Wissenssammlung der Welt, sie ist auch ein sozialer Organismus. Und wie auch der Inhalt von Wikipedia muss Veränderung verhandelt werden. Ob das schnell genug passiert, wird sich zeigen. (Pauline Reitzer, 3.10.2023)