Auf neue, kolossale Spuren der Menschen, die in der frühen Jungsteinzeit lebten, stießen Fachleute kürzlich in der Türkei. Von besonderem Interesse sind die Figur eines männlichen Wildschweins und die eines Mannes mit erigiertem Penis. Die Fundstätten von Göbekli Tepe und Karahan Tepe, an denen die Steinrelikte zutage gefördert wurden, befinden sich 15 bis 50 Kilometer entfernt von der Stadt Şanlıurfa im Südosten des Landes.
Göbekli Tepe zählt zu den bekanntesten und ältesten Monumenten der Welt von archäologischer Bedeutung: Hier wurden Monolithe und weitere massive Steinbauten entdeckt, die aus einer für die Menschheit folgenreichen Zeit stammen. Vor mehr als 10.000 Jahren wandelte sich der Lebensstil vieler Gesellschaften vom jagenden und sammelnden Alltag hin zum sesshaften Dasein und zur Ausprägung des Ackerbaus – die sogenannte Neolithische Revolution oder Transition.
Bemaltes Wildschwein
In Göbekli Tepe entdeckten Archäologinnen und Archäologen nun ein weiteres beeindruckendes Denkmal aus dieser Zeit. Eine der enthüllten Steinskulpturen zeigt einen Keiler, an dem Farbspuren entdeckt wurden. Die roten, schwarzen und weißen Pigmente auf dem Kalkstein-Wildschwein verraten, dass es sich um die wohl erste bemalte Skulptur aus dieser Zeit handle, die bisher bekannt sei, wie das türkische Kulturministerium mitteilte (wenngleich sich moderne Menschen und ihre nahen Verwandten auch davor farblich austobten). Der steinerne Eber befindet sich auf einer Sitzbank, die unter anderem mit Schlangen, einer Mondsichel und menschlichen Gesichtern oder Masken verziert wurde.
Das Wildschwein ist nur eine von mehreren tierischen und menschlichen Steinstatuen aus der Urgeschichte, die 2023 an neun türkischen Fundstätten gefunden wurden, wie das Ministerium berichtet. Die Entdeckungen dürften wie jene in ihrer Umgebung ungefähr 12.000 Jahre alt sein. An den Ausgrabungen beteiligt war unter anderem ein Team rund um die Archäologen Necmi Karul von der Universität Istanbul und Lee Clare vom Deutschen Archäologischen Institut.
Tot oder lebendig?
Auch in Karahan Tepe, einer weiteren Fundstätte von Steinmonolithen, kam Beeindruckendes ans Tageslicht, nämlich eine mehr als zwei Meter große Steinskulptur, die recht detailreich einen nackten Menschen darstellt. Sie dürfte aus der Zeit um 8.500 vor Christus stammen. Der nackte Mann sitzt ebenfalls auf einer Bank, besonders eindrücklich eingeritzt sind Gesicht sowie die Rippen und Schulterknochen, "die an einen toten Menschen erinnern", wie es auf der Seite des Kulturministeriums heißt.
Dies passt jedoch weniger zu einem anderen hervorstechenden Merkmal der Statue, das der Text nicht gesondert erwähnt: Der sitzende steinerne Mann hat offensichtlich einen erigierten Penis. Falls der Künstler oder die Künstlerin nicht gerade auf das Phänomen der postmortalen Erektion aufmerksam machen wollte, dürfte eher ein Lebender abgebildet worden sein – oder überhaupt jemand jenseits von Leben und Tod, etwa eine menschenartig aussehende Gottheit.
Beliebtes Motiv
Damit reiht sich die Phallusfigur bei ähnlichen prähistorischen Kunstwerken dieser Region ein. Dazu gehört etwa eine 40 Zentimeter hohe Figur eines Mannes mit Erektion, die in Göbekli Tepe entdeckt wurde. Und erst im vergangenen Jahr veröffentlichte eine Forschungsgruppe um die Archäologin Eylem Özdoğan von der Uni Istanbul eine Arbeit, die ein 11.000 Jahre altes Relief unweit der heutigen Stadt Sayburç beschreibt – der dort dargestellte Mann umgreift seinen Penis.
Weshalb dieses Motiv immer wieder auftaucht, lässt sich freilich nicht mit Sicherheit sagen. Es gibt unterschiedliche Interpretationsversuche, manche tippen auf die Darstellung eines Schöpfergotts, andere auf Pornografie. Im Kontext des Steinreliefs mit Phallus 2022 sagte der deutsche Archäologe Bernd Müller-Neuhof gegenüber dem Fachmagazin "Science", dass diese Gestalt womöglich zur Begrüßung von Gästen des Hauses angefertigt wurde. Vielleicht sei aber auch das Gegenteil der Fall gewesen, und sie sollte Eindringlinge erschrecken und vertreiben.
Antworten darauf liefert die neue, beachtlich große Skulptur zwar nicht – doch sie stellt ein neues, faszinierendes Puzzlestück dar im archäologischen Rätsel um Kunst und Gepflogenheiten unserer steinzeitlichen Urahnen. (Julia Sica, 6.10.2023)