Übung der Japan Ground Self-Defense Force (JGSDF)
Übung der Japan Ground Self-Defense Force (JGSDF) in Gotemba auf der Insel Honshu.
APA/AFP/YUICHI YAMAZAKI

Die einen in Japan möchten die Zeit gerne zurückdrehen, den anderen kann es nicht schnell genug gehen. Ken Takada gehört zu Ersteren. "Wir möchten nicht mehr, dass Japan nochmals Krieg führt", sagt der 79-Jährige mit gedämpfter Stimme und zittriger Hand. "Unsere Verfassung fußt auf Menschenrechten und Demokratie, das müssen wir erhalten." Sein kleines Büro in Tokio ist voller Plakate, Büchern und Erinnerungen an Mahnwachen und Demonstrationen für Frieden.

Seit über einem halben Jahrhundert ist er in der japanischen Friedensbewegung aktiv. Er ist der Leiter des Bündnisses "Lasst keinen Krieg zu und zerstört nicht Artikel 9!". Der nämlich garantiert den Pazifismus des Landes. Offiziell darf Japan nicht einmal eine Armee haben, nur sogenannte "Selbstverteidigungskräfte", und genau diesen Artikel 9 zu verändern oder ihn zumindest umzuinterpretieren, daran arbeiten politische Kräfte in der Regierung seit einigen Jahren.

Militärische Neuausrichtung

Die USA wollen nicht mehr allein die gewaltigen Verteidigungsausgaben stemmen, die die Abschreckung von China erfordert. Auch Japan soll sein Verteidigungsbudget bis 2027 auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung erhöhen – ein gewaltiger Beitrag, schließlich ist der Inselstaat die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Takadas Gegenspieler sitzt nur wenige Kilometer entfernt im Abgeordnetenbüro im Tokioer Regierungsviertel. Keiji Furuya ist Leiter des Zentrums der LDP für die Umsetzung der Verfassungsreform. Im Büro des schlanken, elegant gekleideten 70-Jährigen hängen Fotos, die ihn mit dem 2022 getöteten Ministerpräsidenten Shinzo Abe zeigen. Abes Ziel war es unter anderem, Japan neu auszurichten – wirtschaftlich, aber auch militärisch.

"Es geht darum, die Verteidigungskraft Japans zu stärken", sagt Furuya. "Derzeit haben wir offiziell nur 'Streitkräfte zur Selbstverteidigung', keine richtige Armee.“ Diese wieder einzuführen wäre ein erster Schritt. Es geht dabei um mehr als nur Namen, sondern ganz konkret um Waffenarten. Eine Armee dürfte anders als Selbstverteidigungskräfte auch Raketensysteme erwerben, die zum Beispiel Startrampen und Rollfelder des Gegners attackieren können.

Spannungen mit China

Um wen es dabei geht, ist relativ klar: Seit Jahren sorgt Nordkorea mit Raketentests für Säbelrasseln und feuert solche immer wieder auch über Japan hinweg, um zu demonstrieren, dass man die Inseln leicht erreichen kann. Seit einigen Jahren aber wachsen die Spannungen mit China. Vieles von dem, was man in der EU lange lieber ignorierte, nahm man in Japan deutlich wahr: Der vermeintlich sanfte Riese auf dem asiatischen Festland liberalisiert sich nicht, sondern tritt immer aggressiver auf.

Als die japanische Regierung 2010 die Senkaku-Inseln von einem ebenfalls japanischen Privateigentümer kaufte, sprach Peking von Verstaatlichung und entfachte in der eigenen Bevölkerung wütende Proteste und Boykotts japanischer Waren. Auch seltene Erden, die für die Herstellung von Halbleitern und Batterien wichtigen Metalle, fanden plötzlich ihren Weg aus China nicht mehr nach Japan. Das dringlichste Problem aber ist Taiwan:

"Unsere südlichste Insel ist gerade einmal 120 Kilometer von Taiwan entfernt", sagt Furuya. "Ein Angriff Chinas auf Taiwan betrifft nicht nur Japan, sondern die ganze Welt."

Der dritte Weg

Doch die Erinnerungen an die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, die japanische Soldaten begingen und japanische Zivilisten später erlitten, sind bedeutsam und Teil der japanischen Identität. Friedensaktivist Ken Takeda ist der Meinung, Japan müsse einen dritten Weg gehen, ähnlich dem der Schweiz, und setzt auf freundschaftliche Beziehungen zu allen Nachbarn: "Japan muss keine Angst haben vor Angriffen anderer, wenn wir selbst niemanden bedrohen – so wie unsere Verfassung es uns vorgibt."

Ken Takeda.
Philipp Mattheis

Politikberaterin Akiko Fukushima von der Tokyo Policy Foundation unterstützt die neue japanische Aufrüstung, ist sich des Spagats aber bewusst. "Eine öffentliche Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu erhalten ist sehr schwierig", sagt sie. "Viele sind zwar für mehr Sicherheit, aber niemand will das mit Steuererhöhungen finanzieren."

Und wenn es doch zum Äußersten kommt, und China Taiwan angreift? "Für uns ist es sehr wichtig, zu verhindern, dass Xi den Weg der Gewalt wählt. Deswegen müssen wir den Preis hochhalten und Peking Entschlossenheit signalisieren."

Einen Krieg in der Region will niemand in Japan, weder Konservative wie Furuya, noch Pazifisten wie Ken Takada. Die einen setzen auf Abschreckung, um ihn zu verhindern. Die anderen fürchten, dass genau dies zum Krieg führen wird. (Philipp Mattheis, 5.10.2023)