Soldaten der indischen Armee helfen bei den Aufräumarbeiten in Sikkim.
via REUTERS/INDIA ARMY

"Wenn der neue Damm wirklich eine Katastrophe auslöst", hieß es in einem Artikel von 2014, würden manche Bewohner des Teesta-Tals woanders hinziehen – wenn sie denn können. "Doch die meisten wissen nicht, was sie tun sollen", wird darin Passang Lepcha, der in Sikkim lebt, zitiert. Am schlimmsten würden derartige Katastrophen eben immer die schwächsten Bewohner der Gemeinde treffen. Am Mittwoch ist genau das passiert, worüber schon 2014 geschrieben wurde: Der Chungthang-Damm im nordindischen Himalaja-Bundesstaat Sikkim ist gebrochen.

Bei den darauffolgenden schweren Überflutungen sind mindestens 40 Menschen ums Leben gekommen, Dutzende Personen werden weiter vermisst. Die Fluten im Teesta-Tal wurden durch den Dammbruch verschärft; die eigentliche Ursache war wiederum ein Gletschersee-Ausbruch weiter oben im Gebirge – eine Naturkatastrophe, die in den vergangenen Jahren durch Klimawandel und Verbauung immer häufiger zu tödlichen Katastrophen im Himalaja führt.

Allein in den ersten fünf Oktobertagen hat es in Sikkim mehr als doppelt so viel geregnet wie üblicherweise zu dieser Jahreszeit, wie aus Wetterdaten der lokalen Behörden hervorgeht. Durch besonders starken Regen Mittwochfrüh ist der Lhonak-Gletschersee, auf 5.200 Metern nahe der Grenze zu Tibet gelegen, übergelaufen. Wie Satellitenaufnahmen zeigen, hat sich das Gewässer um fast zwei Drittel seiner bisherigen Größe reduziert.

Die freigelassenen Wassermassen strömten Richtung Süden, wo sie mehrere Kilometer weiter flussabwärts den Chungthang-Staudamm zerstörten: Mehrere Stellen des Dammes eines riesigen Wasserkraftwerkprojekts entlang des Teesta brachen – und verschärften die Wucht der Wassermassen.

Warum der Damm nicht rechtzeitig kontrolliert geöffnet wurde, sei nicht klar, gab ein lokaler Behördenvertreter gegenüber Reuters am Donnerstag anonym an. Der Staudamm ist in Besitz der staatlichen NHPC, eines der größten indischen Energieunternehmen. Unter den vermissten Personen befinden sich auch 22 Soldaten. Mindestens elf größere Brücken wurden weggewaschen, was Rettungsmaßnahmen zusätzlich erschwert. Außerdem regnete es auch am Donnerstag weiter, auch für die nächsten Tage sind weitere Regenfälle angekündigt.

Brücken wurden weggeschwemmt.
AFP/INDIAN ARMY/HANDOUT

"Die Suchmaßnahmen finden bei unablässigem Regen und schnell fließendem Wasser im Fluss Teesta statt. Vielerorts sind Straßen und Brücken weggespült", schrieb ein Sprecher des Verteidigungsministeriums auf X (ehemals Twitter). Viele Straßen sind unterbrochen, die Versorgung mit Benzin sei schwierig, aber Essen gebe es genug, gab ein lokaler Politiker an.

Sturzfluten immer häufiger

Leider zeigen Daten, dass derartige Naturkatastrophen in der Region immer häufiger werden. Die auf Englisch "GLOF" (Glacial Lake Outburst Flood) genannten Phänomene nehmen vor allem im Himalaja, dem höchsten Gebirge der Welt, zu. Weltweit sind laut einer Studie, die in "Nature" 2023 erschienen ist, 15 Millionen Menschen den Auswirkungen so einer Flut ausgesetzt. Die Menschen im Himalaja sind demnach am meisten gefährdet, weil sie im Durchschnitt am nächsten zu einem Gletschersee leben.

Menschen werden in der Region um Gangtok, Hauptstadt von Sikkim, evakuiert.
EPA/NDRF

Ausgelöst durch die rasante Gletscherschmelze haben sich demnach Fläche und Volumen von Gletscherseen weltweit seit 1990 rund um die Hälfte vergrößert. "Das ist leider die jüngste einer Reihe von Sturzfluten mit Todesfolgen in dieser Monsun-Saison in der Hindukusch-Himalaja-Region. Das zeigt die extreme Anfälligkeit des Gebiets für den Klimawandel sehr deutlich", sagte Pema Gyamtsho, Direktor des überregionalen International Centre for Integrated Mountain Development (ICIMOD) mit Hauptsitz in Nepal zu Reuters.

Intensive Verbauung und Geopolitik

Neben den Folgen des Klimawandels kommen aber auch die Auswirkungen intensiver Verbauung in den Bergen hinzu. Gerade im Himalaja bauen die zwei riesigen Länder China und Indien seit Jahren große Wasserkraftwerke. Und seit Jahren machen diverse lokale Organisationen auf die Gefahren dieser Megaprojekte aufmerksam.

Auch Wissenschafter und Wissenschafterinnen haben auf dementsprechende Risiken in Sikkim hingewiesen, unter anderem konkret auf die GLOF-Gefahr des Lhonak-Sees und die damit verbundenen Gefahren weiter flussabwärts.

Doch die Kraftwerke werden auch gebraucht, um den Energiehunger der wachsenden Bevölkerung in Asien zu stillen. Außerdem stecken auch handfeste geopolitische Interesse hinter den Bauten: Sowohl China als auch Indien rüsten massiv entlang ihrer teils umstrittenen Grenze auf; mit Infrastruktur wie Straßen, Häusern oder eben auch Kraftwerken will man vor Ort Fakten schaffen.

Allein entlang des Teesta sind der lokalen Umweltaktivistin Dekila Chungyalpa zufolge 28 Staudämme in Planung. Der indische Autor Amitav Ghosh, der sich oft mit der Klimakrise befasst, ermahnt, dass es nicht bloß um Klimawandel gehe, sondern "um ein katastrophales Modell der 'Entwicklung', das ohne Rücksicht auf die Risiken umgesetzt wird".

Leidtragende sind, wie so oft, die Menschen vor Ort. Das Ausmaß der Folgen der aktuellen Fluten auf die Menschen, ihre Häuser und ihre Felder ist noch nicht absehbar. (Anna Sawerthal, 5.10.2023)