Pro: Nicht auf Wunder hoffen

"Abnutzungskrieg" – den Begriff kennen diejenigen, die Militärexperten zuhören. Beim Angriffskrieg gegen die Ukraine entscheiden die Ressourcen über den Kriegsausgang.
Nun unterbrachen die USA die Ukraine-Hilfe im Zuge eines Budgetstreits. Auch die Stimmung in Europa kippt: Die Slowakei dürfte unter Wahlsieger und Putin-Freund Robert Fico keine Waffen an die benachbarte Ukraine liefern. Die Verhandlungsposition Kiews dürfte sich nächstes Jahr aufgrund der wachsenden Kriegsmüdigkeit und anstehender Wahlen in der EU und den USA eher verschlechtern. Ein Wahlsieg von Donald Trump hätte verheerende Folgen.

Bei schwindender Unterstützung aus dem Westen wäre die Ukraine hoffnungslos unterlegen. Ja, die Ukraine muss über ihr Schicksal selbst entscheiden und sollte keinem vom Westen vermittelten Diktatfrieden zustimmen. Doch das ist nicht der einzig mögliche Ausgang von Friedensverhandlungen. Mit einer Waffenruhe können tausende Leben verschont und die Zerstörung von Wohnhäusern, Spitälern, und lebenswichtiger Infrastruktur beendet werden.

Die von Kiew kontrollierte Ukraine könnte ein friedlicher Hafen für diejenigen sein, die aus besetzten Gebieten fliehen. Es bringt nichts, auf ein militärisches Wunder zu hoffen. Den Abnutzungskrieg bis zum Ende zu kämpfen kostet viel mehr, als sich an den Verhandlungstisch zu setzen. (Isadora Wallnöfer, 6.10.2023)

Soldat vor Gräbern ukrainischer Kameraden
Wer ein Ende des Blutvergießen fordert, darf sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnen.
AFP/ Sergei Supinsky

Kontra: Kein Verhandlungsdiktat

Der Ruf nach Frieden ist nie falsch. Wer fordert, Blutvergießen zu vermeiden, darf sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnen. Doch an wen richtet sich der Appell? Russland, der Aggressor, setzt auf wachsende Uneinigkeit im Westen und nachlassende Unterstützung für die Ukraine. Der Wahlsieg des Moskau-nahen Populisten Robert Fico in der Slowakei und die Entwicklungen in den USA, wo Trump-Fans gegen die Parteinahme für Kiew revoltieren, sind Wasser auf die Mühlen des Kreml.

Das Interesse an Verhandlungen, die etwas anderes als einen Diktatfrieden zum Ziel haben, ist in Russland nicht zu erkennen. Oder soll man umgekehrt von der Ukraine fordern, besetzte Gebiete abzutreten und so das Blutvergießen zu belohnen? Welche Signalwirkung hätte das für künftige Expansionsgelüste, sei es in Moskau oder anderswo? Man sollte sich an das Münchner Abkommen erinnern, das vergangenes Wochenende seinen 85. Jahrestag hatte: Mit Zustimmung Großbritanniens, Frankreichs und Italiens wurde im Herbst 1938 das Sudetenland an Hitlerdeutschland abgetreten – im Interesse des Friedens und über die Köpfe der betroffenen Tschechoslowakei hinweg.

Die Fortsetzung ist bekannt. Der Ruf nach Frieden ist nie falsch. Doch jemanden damit in einen Diktatfrieden zwingen zu wollen, wird dem moralischen Anspruch dahinter nicht gerecht. (Gerald Schubert, 6.10.2023)