Der 1766 in Wien geborene Franz Johann Joseph von Reilly (1766 bis 1820) war ein erfolgreicher Kartograf und Verleger, insbesondere im Bereich der Atlaskartografie. Seine kartografischen Erzeugnisse – er produzierte insgesamt etwa 1000 unterschiedliche Kartenblätter – hatten wesentlichen Anteil daran, dass Wien im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu einem Zentrum der kommerziellen kartografischen Produktion im deutschsprachigen Raum wurde.1

Reilly veröffentlichte unter anderem den mehrbändigen Universalatlas "Schauplatz der fünf Theile der Welt" (1789 bis 1806), einen "Schul-Atlas" (1791 bis 1792), einen "Diplomatischen Atlas" (1791 bis1798), einen weiteren Universalatlas mit dem etwas irreführenden Titel "Großer deutscher Atlas" (1794 bis 1796), einen Atlas von Schlesien (1796), das Werk "Allgemeiner Post Atlas von der ganzen Welt" (1799), einen "Post-Atlas von Ungarn" (frühestens 1802) sowie einen "Post-Atlas von Italien und Sicilien" (frühestens 1803).2

Österreichische Nationalbibliothek: Das besondere Objekt - "Atlas von der moralischen Welt"
Österreichische Nationalbibliothek

Reilly, der dem alten irischen Geschlecht der O'Reillys entstammte und dessen Familie über Russland nach Wien kam3, gilt als sogenannter "gelehrter Buchhändler", weil er sich auch als Autor in den Gebieten Geschichte und Literatur betätigte. Seine Firma, das Reilly'sche Landkarten- und Kunstwerke-Verschleiss-Komptoir, war zunächst in der Singerstraße Nr. 932 (heute Nr. 4), später in der Rauhensteingasse Nr. 993 (heute Nr. 8) beheimatet.

Allegorische Karten

Ein weiteres von Reilly 1802 in Wien herausgegebenes außergewöhnliches Atlaswerk unterscheidet sich grundlegend von den kommerziell erfolgreichen "regulären" kartografischen Produkten seines Verlags.4 Der "Atlas von der moralischen Welt" umfasst zehn mit umfangreichen Erklärungen versehene allegorische Karten. Allegorische Karten sind Fantasiekarten; sie bilden nicht geografische, sondern geistige Welten ab.

Die allegorische Kartografie wurde zunächst als ein experimentelles Verfahren zur visuellen Aneignung soziokultureller Befindlichkeiten in der Mitte des 17. Jahrhundert in Frankreich entwickelt. Allegorische Karten verbreiteten sich anschließend in den gelehrten Zirkeln Europas. Als gedruckte Medien wurden sie ein erfolgreiches spezielles Bildgenre, angesiedelt zwischen Kartografie und Allegorie, Geografie und Literatur, Bild und Text.

Kartierte Projektionsfläche

Allegorische Karten dienten als eine Art Projektionsfläche für die Darstellung sozialer Zustände und Prozesse. Sie visualisierten Welten des Geistes und nicht die Geografie der physischen Welt. Sie dienten, so der Spezialist für dieses Kartengenre, der Salzburger Historiker Franz Reitinger, "zur Darstellung von philosophischen Theorien, religiösen Dogmen, politischen Maximen, ästhetisch-literarischen Regeln, Lebensentwürfen, Verhaltensnormen, Umgangsformen, Erscheinungen der Mode als auch individueller Gewohnheiten".5

Allegorische Karten funktionieren nach dem Prinzip, dass auf einer in der Gestaltung den "regulären" Karten entsprechenden grafischen Grundlage das Namensgut durch Begriffe des Denkens (moralische, soziale und politische Werte) ersetzt und diese Begriffe in Beziehung zueinander gestellt werden. Die allegorischen Karten bilden also keine realen raumbezogenen Gegebenheiten ab, sondern sie sind Fantasiekarten, grafisch täuschend echt nach dem Vorbild "richtiger" Landkarten und Stadtpläne gestaltet.

Dass sich renommierte Kartografen wie Reilly auch mit allegorischen Landkarten beschäftigten, war im 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich. Es sei zum Beispiel an die berühmte Karte des Schlaraffenlandes erinnert, die von den bekannten deutschen kartografischen Verlagshäusern Homann und Seutter hergestellt worden war.6

"Atlas von der moralischen Welt"

Reilly veröffentlichte 1801 ein sechsbändiges Druckwerk mit dem Titel "Bibliothek der Scherze mit einem satyrisch-allegorischen Atlasse" – eine von ihm zusammengestellte Anthologie mit etwa 300 humoristischen Anekdoten und Erzählungen.7

In der "Wiener Zeitung" wurde der Inhalt des umfangreichen Werkes folgendermaßen beschrieben: "... launige und witzige Einfälle, die bisher der Welt durch alte und neue Schriftsteller mitgetheilt wurden […] kurz alles, was den Geist auf eine angenehme Art überraschet, und den Aufgeweckten zum Lachen zwinget, dem Mürrischen aber wenigstens ein Lächeln entlocket".8 Einen Teil dieser Anthologie bildeten zehn, in Kupferstich vervielfältigte allegorische Kartenblätter mit dazu gehörigen erklärenden Texten.

Der Autor schrieb: "Auf diesen Karten sind Tugenden und Laster, und gute und böse Neigungen sammt ihren Folgen als geographische Gegenstände vorgestellet, und jede Karte für sich, so wie alle zehn zusammen genommen sind in eine Art von System gebracht, in so fern es die Natur der Sache erlaubet.“9 Und er führte weiter aus: "Alle Bewohner dieser Fläche erblicken das Licht der Welt in der Hauptstadt, welche die Stadt der Selbstliebe heißt. Sie streben alle nach dem Besitze einer ungestörten Glückseligkeit, und dieses veranlasst sie, weite Reisen zu thun, um in das Land der Ruhe zu gelangen, wo sie ganz recht diesen Zustand zu finden hoffen.“10

Diese auf die sechs Bände der "Bibliothek der Scherze" verteilten allegorischen Karten und ihre Erklärungen wurden von Reilly ein Jahr nach der Erstveröffentlichung, 1802, noch einmal separat als Atlasband im Querformat herausgegeben. Er ließ dazu ein eigenes Titelblatt entwerfen und in Kupfer stechen. Eine bildliche allegorische Darstellung, Herakles am Scheideweg, verweist zusätzlich zum Wortlaut des Titels auf die pädagogisch-moralische Intention.

Titelblatt des Atlas der moralischen Welt, Text mit Zeichnungen von Menschen.
Titelblatt des "Atlas von der moralischen Welt".
Österreichische Nationalbibliothek

Dieser "Atlas von der moralischen Welt" ist außerordentlich selten; in Österreich lassen sich nur fünf Exemplare nachweisen, in Deutschland zwei und in den Vereinigten Staaten von Amerika ein weiteres. Diese Aufzählung mag nicht vollständig sein; sie belegt jedoch die Seltenheit des Werkes.11

Wie bei vielen "regulären" geografischen Atlanten beginnt Reillys "Atlas von der moralischen Welt" mit einer Übersichtskarte. Dieser folgen neun Detailkarten von auf der Übersichtskarte dargestellten Gebieten. Jeder ganzseitigen Karte ist eine ebenfalls ganzseitige, umfangreiche Erklärung gegenübergestellt.

Alte, gezeichnete Landkarte einer Fantasie-Welt.
Generalkarte des "Atlas von der moralischen Welt".
Österreichische Nationalbibliothek

"Auf den künftigen Karten sieht der Leser in vergrössertem Massstabe so wohl die Hauptstadt, als die acht Reiche, aus denen die moralische Welt besteht, und die folgenden Abhandlungen werden ihm eine genaue Beschreibung davon mitteilen."12

Die "General-Karte der Moralischen Welt" zeigt ein von drei Meeren (Meer der Bleibenden Freude, Meer der Verzweiflung, Meer ohne Grund) umgebenes Land, welches in der Manier "regulärer" Landkarten mit Symbolen und Zeichen topografischer Merkmale versehen ist – Berge, Hügel, Wüsten, Gewässer, Gebäude, Bewuchs, eine von Mauern umschlossene Stadt, eine Festung. Dies ist die Bühne, auf welcher der Autor seine Darbietung präsentiert: "Auf den künftigen Karten sieht der Leser in vergrössertem Massstabe so wohl die Hauptstadt, als die acht Reiche, aus denen die moralische Welt besteht, und die folgenden Abhandlungen werden ihm eine genaue Beschreibung davon mitteilen.“12

Auf die "General-Karte" folgt die "Topographische Karte von der Stadt der Selbstliebe":

Fantasie-Karte der
Die "Stadt der Selbstliebe" im "Atlas von der moralischen Welt".
Österreichische Nationalbibliothek

"Alle zweyfüßigen Thiere ohne Federn, wovon der göttliche Platon spricht, bringen ihr Leben auf der Reise durch die moralische Welt zu, und alle gehen von der Stadt der Selbstliebe aus."13 Die Stadt ist zweigeteilt – in das Stadtquartier der Selbstliebe und das Stadtquartier der Eigenliebe. Das Quartier der Selbstliebe mit der Gasse der Geduld, der Gasse der Demuth und der Gasse der Eintracht beherbergt die biederen Menschen; hier ist die Welt in Ordnung, hier wird auch keine Gerichtsbarkeit benötigt, es herrscht "ein Umstand, der Advocaten und Referenten in Verzweiflung brächte.“14

Doch neben diesem Areal liegt das Quartier der Eigenliebe mit dem Platz des Selbstgefallens, dem Gässchen der Indiskretion, der Straße der Prahlerei und den Hügeln der Unverschämtheit. Die Einwohner dieses Stadtteiles werden die Egoisten genannt. Aus Angst, es könnten Feinde in ihr Quartier eindringen, haben sie es mit einer Mauer des Argwohns umgeben. In diesem Teil der Stadt gibt es ständig Streitereien, "die damit entschieden werden, dass eine schwache Partey von einer stärkeren ergriffen, und ohne viele Formalitäten über die Stadtmauer geworfen wird, wobey einige so glücklich sind, in die Felder der Erkenntnis zu gerathen.“15 Die zwei Teile der Stadt unterscheiden sich auch architektonisch – der Enge der Festung steht eine offene Gartenstadt gegenüber, aus der man jedoch durch das Erdloch der Heuchelei über unterirdische Gänge in das erstgenannte Stadtquartier gelangen kann.

An die Stadt der Selbstliebe schließen acht Karten an, die im Rahmen dieses kurzen Artikels – mit Ausnahme der letzten – nicht näher beschrieben werden können:

• Die Landkarte von dem Reiche der Liebe
• Die Landkarte von dem Reiche des Erwerbes
• Die Landkarte von dem Reiche der Ehre
• Die Landkarte von dem Reiche der Herrschaft
• Die Landkarte von dem Reiche des Wissens
• Die Landkarte von dem Reiche des Müssiggangs
• Die Landkarte von dem Reiche der Speculation
• Die Landkarte von dem Lande der Ruhe

Fantasie-Karte vom Land der Ruhe.
Das "Land der Ruhe" im "Atlas von der moralischen Welt".
Österreichische Nationalbibliothek

"Das Land der Ruhe wird von jedem Weisen im moralischen Reiche als das Ziel seiner Reise angesehen.“16 Die unterschiedlichen Wege in das gelobte Land sind mit vielen Schwierigkeiten verbunden; einige Reisende machen Umwege, manche verirren sich. "In jedem der fünf ober der Hauptstadt liegenden Reichen, wozu also die zwey westlichen nicht gehören, gibt es nur einen einzigen Weg, der in das Land der Ruhe führet.“17 Durch das "Reich der Speculation" und durch das "Reich des Müssiggangs" führt jedoch kein Weg in das gelobte Land.

"Im Norden des Landes der Ruhe befindet sich eine Bergkette, die Berge des leichten Scheidens. An diese grenzt das Meer der bleibenden Freude. Zwar kennen wir das andere Gestade dieses Meeres nicht; aber wie reizend muss es seyn, da das bekannte schon so schön ist! Doch die im Lande der Ruhe wohnen, wissen es auch, dass sie über dieses Meer aus ihrem irdischen Eden in ein unvergängliches wallen.“18

Wie im realen Leben mittels "regulärer" Landkarten und Stadtpläne, können anhand der allegorischen Karten Positionen bestimmt und Wege nachvollzogen werden. Nur handelt es sich nicht um eine Reise auf der Oberfläche der Erde, sondern um eine Reise in die Welt des Geistes.

Kompassrosen und Bebilderung

Einige Bemerkungen zur Faktizität vortäuschenden Gestaltung der Kartenblätter: Die kartografischen Symbole und Zeichen wurden bereits erwähnt. Obwohl keine Kompassrosen eingezeichnet sind, geht aus den Erläuterungen zweifelsfrei hervor, dass der obere Kartenrand mit Norden und der untere mit Süden, der linke mit Westen und der rechte mit Osten gleichzusetzen ist. Die Indexierung an den Kartenrändern (vertikal: 1 bis 5, horizontal: a bis e) ermöglicht es, analog zum Gradnetz "regulärer" Landkarten, die Lage bestimmter Orte in Suchquadraten festzustellen. Am Ende des sechsten Bandes der Bibliothek der Scherze findet sich ein Register, in dem alle Namen, die in den zehn Karten vorkommen aufgelistet und diese mit den Angaben zum Auffinden derselben versehen sind.19 Dieses Register ist in dem in der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrten Atlasexemplar nicht enthalten.20

Den "regulären" Landkarten seiner Zeit entsprechend, weisen die allegorischen Kartenblätter in Reillys Atlas der moralischen Welt auch Kartuschen mit dem jeweiligen Kartentitel und mit bildlichen Darstellungen charakteristischer Allegorien auf, im Fall der Stadt der Selbstliebe beispielsweise einen Putto mit einem Spiegel, im "Reich der Liebe" einen geflügelter Amor mit einem Pfeil, im "Reich des Erwerbs" sind verschiedene Werkzeuge wiedergegeben, unter anderem ein Pflug, im "Reich der Ehre" ist Kriegsgerät zu finden und im "Reich des Müssiggangs" eine Tabakpfeife, ein Sonnenschirm und ein Musikinstrument.

Franz Johann Joseph Reilly selbst charakterisierte seinen "Atlas von der moralischen Welt" mit den Worten: "Er ist dazu bestimmt, seinem Beschauer ein Lächeln abzugewinnen und ihn in fröhliche Laune zu versetzen."21 Der bereits eingangs erwähnte Spezialist für allegorische Karten, Franz Reitinger, wertet Reillys "Atlas von der moralischen Welt" als "einen nicht wieder erreichten Höhepunkt in der Kartierung österreichischer Vorlieben und Abneigungen, ja in der über dreihundertjährigen Geschichte der europäischen Landkartenallegorie insgesamt".22 (Jan Mokre, 12.10.2023)