Ein junge Muslimin mit Smartphone
Social Media verändern auch die Lebenswelten von jungen Musliminnen und Muslimen in Österreich.
Robert Newald

Im Zusammenhang mit islamistischem Terror ist häufig zu lesen, dass sich Verdächtige in sozialen Netzerken radikalisiert haben. Doch auch das Gegenteil ist der Fall: Viele junge Musliminnen und Muslime entwickeln und gestalten auf Social-Media-Kanälen wie Facebook, Instagram und Tiktok eine individuelle Religiosität, die traditionelle Werte in den Hintergrund rückt und offen gegenüber moderner Jugendkultur ist. Das ist eine der Kernaussagen der Studie "Muslimische Religiosität im digitalen Wandel", die am Freitag in Wien vorgestellt wurde. Autoren sind Ednan Aslan vom Institut für Islamisch-Theologische Studien an der Uni Wien und Erol Yildiz vom Institut für Erziehungswissenschaft an der Uni Innsbruck.

Analoge und digitale Welt sind eins

Für den empirischen Teil der Studie wurden österreichweit 139 Interviews mit muslimischen Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen 14 und 19 Jahren geführt (90 davon waren weiblich). Wie alle jungen Menschen verbringt auch die befragte Gruppe sehr viel Zeit auf Social Media - teilweise bis zu acht Stunden pro Tag. "Für diese Generation gibt es keine Unterscheidung mehr zwischen analoger und digitaler Welt. Alles gehört zusammen", sagt Yildiz, dessen Arbeitsschwerpunkt seit vielen Jahren auf Migration und Bildung liegt. Geografische Grenze seien längst aufgehoben im sogenannten Onlife. So habe etwa eine Schülerin angegeben, dass sie in Graz zu Hause sei, ihre muslimische Community aber in Kairo beheimatet sei. Sowohl in konservativ orientierten als auch in liberalen Strömungen des Islam gebe es durch die Online-Möglichkeiten eine Neukonzeption der Umma, wie die globale religiöse Gemeinschaft der Muslime genannt wird.

Drei Tendenzen der Religiosität

Aus den Antworten der 139 Befragten haben die Wissenschafter aus der Momentaufnahme drei Tendenzen herausgefiltert:

Für 40 Prozent der Befragten sind die traditionellen Werte der Religion lebensbestimmend. Murad, ein in der Studie zitierter 17-jähriger Schüler aus Wien, wollte sich zum Beispiel auf Youtube erkundigen, ob Rastazöpfe im Islam erlaubt seien oder nicht (die Antworten waren widersprüchlich). "Grenzmarkierende Religiosität" nennen die Studienautoren diese Tendenz. Sie ist gekennzeichnet von einer statischen und unkritischen Haltung gegenüber dem Islam. Haram/Halal, also Gebot/Verbot, spielt eine zentrale Rolle. Die meisten Schüler und Schülerinnen aus dieser Gruppe haben einen ausschließlich muslimischen Freundeskreis, besuchen regelmäßig Moscheen.

Reflektierte Haltung

Weitere 38 Prozent der Befragten werden einer "dynamisch-reflexiven Religiosität" zugeordnet. Religion spielt zwar in ihrer Lebenswelt eine Rolle, sie zeigen aber eine kritisch-reflektierte, oft abwägende Haltung. Obwohl sie meist die gleichen Social Media nutzen wie ihre gleichaltrigen Peers (vor allem Instagram, Tiktok und Youtube), ist ihr Medienkonsum zielgerichteter. Sie lassen sich auch öfter auf Diskussionen zu Religionsthemen ein, wehren sich gegen Islamophobie. In der Studie kommt die 18-jährige Azra aus Innsbruck zu Wort, die von einem Lehrer einmal aufgefordert worden sei, etwas Arabisches auf die Tafel zu schreiben. Ihre Antwort, dass sie aus der Türkei komme und kein Arabisch könne, habe den Lehrer gleichermaßen verblüfft wie beschämt.

Individuell angepasster Glaube

Die dritte Gruppe mit 22 Prozent der Befragten wird in der Studie "individuell-subjektive Religiosität" genannt. Die Betreffenden verstehen sich zwar durchaus als Musliminnen und Muslime, sie besuchen aber nur selten oder nie eine Moschee. Sie integrieren persönliche Hobbys und Interessen in ihr religiöses Selbstverständnis. Dabei spielen digitale Medien eine große Rolle. Eine Jugendliche mit afghanischen Wurzeln und streng islamischem Elternhaus betreibe beispielsweise auf Tiktok einen Tanzblog, erzählt Religionspädagoge Aslan. In ihrer Welt sei das kein Problem, in der der Eltern schon. Diese Gruppe sei die am schnellsten wachsende Gruppe unter muslimischen Schülerinnen und Schülern.

Als praktische Folgerungen empfehlen die Studienautoren Aslan und Yildiz einen offeneren Dialog zu religiösen Themen in Schulen - auch fächerübergreifend. Die meisten der befragten Schüler und Schülerinnen hätten etwa für Ethikunterricht für alle plädiert. Vielen fehle die Diskussion zu relevanten Alltagsfragen und medialen Debatten zur Stellung des Islam in der Gesellschaft im islamischen Religionsunterricht, auch wenn sie diesen per se gern besuchen.

Regierung gegen Hassprediger

Die Regierung will sich vorerst einmal fundamentalistischen Internet-Predigern widmen, wie Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm (ÖVP) der APA sagte. Dabei geht es um sogenannte Influencer-Preacher, die in 60- bis 90-sekündigen Videos auf Tiktok erklären, wie der Koran auszulegen ist – und das eben oftmals aus radikalislamistischer Sicht. Plakolm will einerseits Plattformen zwingen, Hassprediger zu sperren, andererseits Jugendliche stärken, um extremistische Tendenzen zu erkennen und sich dagegen zu wehren. Kommendes Jahr sollen dazu entsprechende Seminare angeboten werden, kündigte Plakolm an. (Michael Simoner, 6.10.2023)