CSU-Parteitag kurz vor der Bayerischen Landtagswahl: Ein Wimmelbild auf der Videowall zeigt Franz Josef Strauß auf einer Wolke über Bayern
CSU-Parteitag kurz vor der bayerischen Landtagswahl: Ein Wimmelbild auf der Videowall zeigt den ehemaligen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß auf einer Wolke über Bayern.
IMAGO/Chris Emil Janssen

Der 3. Oktober 1988 ist so ein Tag, der beispielhaft für mein Bayern-Verständnis steht. Nach dem Unterricht spielte ich mit Freunden Fußball auf dem Gelände unserer Schule im Münchner Umland. Da stapfte der Hausmeister mit hochrotem Kopf vorbei, er zog eine weiß-blaue Fahne halb auf. Zu Hause eine ähnliche Szene: Mein Vater flaggte auf Halbmast, an die Antenne seines BMW knotete er ein schwarzes Band. Der Freistaat trauerte um seinen Ministerpräsidenten, der einem König gleich verabschiedet wurde.

Die öffentliche Reaktion auf den Tod von Franz Joseph Strauß kommt dem nahe, was nach dem Ableben Jörg Haiders passierte. Doch zwischen der politischen Wirkmächtigkeit beider Männer liegen Welten. Der Kärntner mag den modernen Rechtspopulismus erfunden und die FPÖ zur mittelgroßen Kraft gepusht haben. Strauß war einerseits nicht nur skrupellos, autoritär und kungelte mit Diktatoren, seine Rolle in der "Spiegel"-Affäre gilt als einmalige Attacke auf die Pressefreiheit in Westdeutschland. Und der Metzgersohn aus München war ein Kenner dessen, was man in Österreich Freunderlwirtschaft nennt.

Doch Strauß hatte auch eine positive Seite: Der Oberbayer war ein Baumeister der westdeutschen Erfolgsgeschichte, ein Staatsmann. Strauß kann man maßgeblich zurechnen, dass das einst finanziell abgehängte Bundesland heute weitgehend prosperiert. Bayern ist nicht nur Agrar-, sondern ebenso ein erfolgreiches Industrieland mit Regionen, in denen quasi Vollbeschäftigung herrscht.

"A Hund is a scho"

Der ambivalente "FJS" war lagerübergreifend gefürchtet wie anerkannt. Der anerkennende bajuwarische Ausruf "A Hund is a scho" trifft es ganz gut. Die CSU gilt seit jeher als Garantin dafür, dass der Freistaat nicht in den Extremismus kippt. Meinem in Indien geborenen Vater, der in den 1960er-Jahren als Student in den Freistaat gekommen und längst Deutscher geworden war, hat Strauß ebenfalls imponiert – auch deshalb trauerte er damals öffentlich.

Unter Strauß' Anleitung hat seine CSU nämlich etwas geschafft, was im Nachhinein geradezu verblüffend ist: Die erst 1945 gegründete Partei hat Bayern geradezu durchwirkt, weshalb sie seit Jahrzehnten teils mit absoluten politischen Mehrheiten dominiert. Dabei hat sie dem Land und seinen Leuten unterm Strich einen progressiven Spin mitgegeben. Man blieb zwar katholisch-konservativ geprägt und hegte mit Stammtischsprüchen den rechten Rand, doch gesellschaftlich entwickelte man sich durchaus liberal.

Ein wichtiges Element: Das weiß-blaue "Mia san mia"-Selbstverständnis enthält eine starke inkludierende Note. Wer dazugehören will, der gehört dazu – zumindest habe ich es so erlebt in dem oberbayerischen Dorf, in dem ich aufwuchs: Sport- und Schützenverein, Adventssingen, Fürbitten-Gottesdienste für Unfallopfer, all die Faschingsbälle und Dorffeste, die Gaudi mit der Landjugend, als es darum ging, Maibäume aufzustellen und zu umtanzen – und manchmal auch den aus dem Nachbarort zu klauen. Der Toni von der Dorf-CSU war etwas traurig, dass sein Werben um mich vergeblich war, und der alte Pfarrer bedauerte, dass ich evangelisch bin. Mein Name, mein Aussehen, meine Herkunft – alles wurscht. Ob eine solche Jugend auch in Tirol, Kärnten oder Niederösterreich möglich wäre?

Soziale Schere

Seit Strauß' Todestag im Oktober vor 35 Jahren hat sich viel verändert. Bayern geht es zwar nach wie vor finanziell besser als anderen Ländern in Deutschland, Ballungszentren wie München explodieren ökonomisch. Doch die soziale Schere klafft auseinander, mir ist schleierhaft, wo eine alleinerziehende Supermarktkassiererin in München leistbaren Wohnraum findet. Und es gibt auch im Freistaat abgehängte Landstriche, wo die Jobs schwinden, die Infrastruktur vor sich hin bröckelt und sich politischer Extremismus breitmacht.

Die CSU dominiert zwar nach wie vor, aber die Zeiten der absoluten Mehrheiten sind vergangen. Damals wie heute kokettiert die CSU mit ihrem Kniff, Bayern zum Himmel auf Erden zu erklären. Doch die "Laptop und Lederhosn"-Formel, mit der vor 20 Jahren noch Edmund Stoiber reüssierte, zieht längst nicht mehr so stark. Stoibers politischer Ziehsohn Markus Söder steht in der Tradition der kraftmeiernden CSU-Nervensägen, doch er hat keinen leichten Stand. Die Doktrin von Strauß, dass es rechts von der CSU nichts innerhalb des Verfassungsbogens geben dürfe, gilt längst nicht mehr.

Neben der in Teilen rechtsextremen AfD macht sich dort Söders Koalitionspartner Hubert Aiwanger breit, dessen Bierzeltreden seit der Affäre um ein neonazistisches Flugblatt im August mehr Stimmung bei einschlägigem Publikum erzeugen. In Umfragen steigen die Werte seiner Freien Wähler.

Abstand zur AfD

In Opportunismus und Skrupellosigkeit steht Söder Aiwanger kaum nach. Doch anders als sein Vize bleibt der Ministerpräsident stets im demokratischen Spielfeld, während Aiwanger in schlimmster Trump-Manier behauptet, man müsse sich die "Demokratie" in Deutschland zurückholen. In einer Zeit, in der bei der CSU-Schwester CDU manche Funktionäre offen mit einer Kooperation mit der vom Faschisten Björn Höcke dominierten AfD liebäugeln, bleiben die Christsozialen auf Abstand.

Deshalb ist die Landtagswahl an diesem Sonntag eine Richtungsentscheidung, die weit über die Grenzen Bayerns hinausreichen wird. Sollte die CSU hinter ihr schwaches Ergebnis von 2018 fallen, dürfte die Abgrenzung zur AfD schwer aufrechtzuhalten sein. Dann dürfte die CSU ihren Mitte-rechts-Kurs aufgeben und vollends in Richtung der Rechtsextremen kippen.

Bei der CSU-Basis scheint der Gedanke an einen Rechtsruck aber nicht so populär zu sein. Auch nicht im Chiemgau, wo ein Teil meiner Familie lebt. Dort habe ich Anfang August erlebt, wie eigens angereiste AfD-nahe Krawallmacher den grünen Bundesminister Cem Özdemir in einem Bierzelt ausgepfiffen haben. Anwesende Lokalpolitiker der CSU und anderer konservativer Kräfte applaudierten Özdemir demonstrativ, als der in seiner Rede gegen Wladimir Putin und die AfD wetterte. Lust auf toxische Zustände wie in Österreich hat man dort offenkundig nicht. (Oliver Das Gupta, 7.10.2023)