Durchgebrannte Autos nach Löschungsarbeiten. 
Die brennenden Autos nach dem Raketenangriffen im Süden Israels wurden zwar wieder gelöscht. Doch Experten befürchten, dass die Gewalteskaltion diesmal nicht nach ein paar Tagen vorbei sein wird.
AFP/AHMAD GHARABLI

"Es ist Krieg." Knappe Worte des israelischen Armeesprechers reichten, um wenige Stunden nach dem Überraschungsangriff der Hamas auf Israel anzudeuten, wie groß der Schock war. Am Morgen des Schabbat und zugleich am Morgen des jüdischen Festes Simchat Thora griffen die Terrorgruppen aus Gaza Israel von mehreren Fronten aus an – aus der Luft, über den Landweg und vom Meer aus.

Israels Streitkräfte waren völlig unvorbereitet auf das Ausmaß der Attacken: Zu tausenden Raketen, die von Gaza aus abgefeuert wurden, kam diesmal auch das Durchbrechen der massiven Barriere, die den Gazastreifen von Israel trennt. Dutzende bewaffnete Terroristen drangen in mindestens zehn israelische Dörfer ein, schossen um sich, kidnappten Soldaten und Zivilisten, besetzten Militärbasen und brachten Geiseln nach Gaza – wie viele, ist noch unbekannt.

Nur der Anfang ...

Niemand erwartet, dass es diesmal nach ein paar Tagen vorbei sein wird. "Was wir hier sehen, ist wohl der Anfang von etwas Großem", sagt Giora Eiland, ehemaliger Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats in Israel. "Wir sind nahe an einer Katastrophe."

Schon am ersten Tag war das Blutvergießen von einem Ausmaß, wie man es lange nicht gesehen hat.

Binnen sechs Stunden stieg die Zahl der Verwundeten bereits auf über 700, mindestens 40 Israelis waren allein bis Samstagmittag durch die Gewalt der Hamas getötet worden. Damit ist die Zahl der Todesopfer binnen weniger Stunden bereits auf das Vierfache dessen gestiegen, was in elf Tagen militärischer Auseinandersetzung im Mai 2021 auf israelischer Seite verzeichnet wurde. Am Samstagabend wurden aus dem Gazastreifen erneut zahlreiche Raketen in Richtung Israel abgefeuert. Die Zahl der Toten stieg auf mindestens 250, verletzt wurden israelischen Medien zufolge mehr als 1.400 Menschen.

Raketenangriffe in Richtung Israel aus dem Gazastreifen am Samstagabend.
Raketenangriffe in Richtung Israel aus dem Gazastreifen am Samstagabend.
AFP/MAHMUD HAMS

Schlachtfeld im Süden

Alle Ärzte sollen sofort ihre Auslandsreisen abbrechen, verkündete der Generaldirektor des Gesundheitsministeriums. Die Rettungsorganisation Roter Davidstern rief die Allgemeinheit zum Blutspenden auf. Tausende Reservisten wurden mobilisiert.

Am Samstag war die Armee vor allem darauf fokussiert, die Eindringlinge aus Gaza aufzuspüren, die sich auch am Abend immer noch in Dörfern und Städten im Süden Israels bewegten. Sie mordeten, brachten Krankenwägen unter ihre Kontrolle, erschossen Sanitäter. Ein Beobachter der Lage sprach von "einer wahren Schlacht".

Angst vor den Gegenschlägen

Im Umkreis von 80 Kilometern rund um den Gaza-Grenzübergang rief die Armee den Ausnahmezustand aus. Größere Versammlungen sind verboten, die samstägliche Großdemonstration gegen die Regierung wurde abgesagt.

Während die Hamas und ihre Anhänger triumphieren, zittern die Zivilisten in Gaza vor dem, was sie in den nächsten Tagen erwartet: massive Bombardements und eine Blockade, die Millionen Menschen langsam aushungert und es den Spitälern und Kliniken unmöglich macht, die Verwundeten zu versorgen. Am Abend kündigte Israels Energieminister auch an, die Stromversorgung aus Israel in den Gazastreifen zu stoppen.

Rauchwolken über dem Gazastreifen.
Israel fliegt Gegenschläge im Gazastreifen.
REUTERS/MOHAMMED SALEM

"Menschen stürmen Supermärkte und Bäckereien", sagt Maha Husseini von der Menschenrechtsorganisation Euromed.org. Es gibt für Zivilisten kaum Luftschutzräume, in die sie sich vor den Luftangriffen retten können. Auch eine Flucht aus dem dichtbesiedelten Gazastreifen ist unmöglich, weil Israel die Grenzen geschlossen hält und Ägypten den südlichen Grenzübergang nur äußerst selektiv öffnet. Palästinensische Behörden sprachen von mehr als 230 Toten und rund 1.700 Verletzten im Gazastreifen.

Justizcoup der Regierung

Seit Monaten hatten Militärstrategen vor einem Mehr-Fronten-Angriff auf Israel gewarnt. Israels Feinde wussten, dass das Land wegen der massiven innenpolitischen Turbulenzen geschwächt dasteht. Dass hunderte Reservisten, darunter auch Militärpiloten, aus Protest gegen den geplanten Justizcoup der Regierung ihre Bereitschaft beendet hatten, war auch ein Zeichen an die Terroristen: wann, wenn nicht jetzt?

Zerstörung in der Stadt Gaza nach israelischen Gegenangriffen.
IMAGO/Atia Darwish \ apaimages

Nun fragen sich viele, wie es dazu kommen konnte, dass die Armee der Attacke am Samstag derart unvorbereitet gegenüberstand. Militärexperte Eiland nimmt Benjamin Netanjahus Regierung in die Pflicht: "Monatelang war das ganze Land von den falschen Dingen abgelenkt." Dazu kommt, dass die Regierung wichtige Teile der Truppen ins Westjordanland verlagert hatte, um die dort lebenden jüdischen Siedler vor den massiv zunehmenden Terrorattacken zu schützen. "Diese Truppen fehlen nun an der Grenze zum Gazastreifen", sagt Eiland.

Erinnerung an Yom-Kippur-Krieg

In Israel rief der Überraschungsschlag bei vielen Erinnerungen an den verheerenden Yom-Kippur-Krieg vor fünfzig Jahren wach, der von Ägypten, Syrien und weiteren arabischen Staaten gegen Israel geführt wurde. Eiland hält den Vergleich für verfehlt. "Damals war die Lage viel ernster", sagt er. War es im Jahr 1973 ein Bündnis mehrerer Staaten, stehe Israel heute mit der Hamas in Gaza einem vergleichsweise schwachen Gegner gegenüber.

Das könnte sich aber jederzeit ändern, denn der entscheidende Faktor für den weiteren Kriegsverlauf ist, ob sich die vom Iran gesteuerte Hizbollah im Libanon an der Attacke beteiligt. Dann stünden nicht nur der Süden, Tel Aviv und Jerusalem unter Beschuss, sondern auch der Norden Israels – Haifa und Galiläa.

Befreiung der Geiseln

Neben der Frage, ob sich der Krieg auf die Nordgrenze ausweitet, machen die Geiselnahmen Sorge: Israel wird darauf bestehen, dass jede einzelne Geisel wieder zurück nach Hause gebracht werden kann. Das könnte Israel in die Lage bringen, auch Bodentruppen in den Gazastreifen senden zu müssen – ein Szenario, das man in den vergangenen Jahren strikt vermeiden wollte.

Bis alle Geiseln – darunter soll sich auch ein Kommandant der Armee befinden – befreit werden können, wird aber einige Zeit vergehen. Die Terrorgruppen im Gazastreifen werden im Gegenzug die Freilassung palästinensischer Gefangener verlangen. Eine baldige Waffenruhe ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in Sicht. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 7.10.2023)