Der Kreml-Freund und völkisch-nationalistische Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, dreht an der Eskalationsschraube.
Reuters

Die Spuren des Angriffs sind deutlich zu sehen. Dem 20-jährigen Bosniaken Osman Mehanović wurde am 23. Juni in dem ostbosnischen Ort Bratunac, ganz in der Nähe von Srebrenica, von serbischen Nationalisten ein Zahn ausgeschlagen. Die Täter schnitten ihm auch mit einem Messer die Hand auf, die Narben sind noch stark blutunterlaufen. "Die Gerichtsverhandlung ist am Laufen", erzählt der junge Mann dem STANDARD. "Wenn sie verurteilt werden, bekomme ich eine Entschädigung."

Der Angriff auf den Muslim, der durch seine Arbeit für ein Medium im Ort bekannt ist, ist kein Einzelfall. In dem bosnischen Landesteil Republika Srpska, jener Region also, in der serbische Milizen systematisch zwischen 1992 und 1995 die Nichtserben vertrieben, in Lager steckten oder ermordeten, häufen sich wieder die Attacken auf Bosniaken.

Im März dieses Jahres wurde ein älteres bosniakisches Rückkehrerpaar aus einem Dorf in der Nähe von Višegrad angegriffen. Die beiden wurden von mehreren Personen geschlagen. Anfang September wurde Senad Sejfić, ebenfalls bosniakischer Rückkehrer, im Dorf Gornja Kamenica in der Nähe der örtlichen Moschee von mehreren Menschen angegriffen. Er saß im Auto, als mehrere Fahrzeuge seines umzingelten. Dann schlugen die Angreifer ihm ins Gesicht.

Aufgeschlitzter Basketball

Vor einer Woche, am 4. Oktober, lag ein aufgeschlitzter Basketball vor der Haustür des Bosniaken Nedim Salaharević in Vlasenica. Salaharević meinte, es handle sich um eine "klare Botschaft", die ihn einschüchtern sollte. Salaharević hat nämlich gegen den jetzigen Bürgermeister von Vlasenica ausgesagt, der wegen Verbrechen in den 1990er-Jahren vor Gericht steht.

In der Nähe des Ortes befand sich während des Krieges das berüchtigte Internierungslager Sušica, in dem bosniakische Gefangene getötet, vergewaltigt und gefoltert wurden. Insgesamt wurden 2.800 Bosniaken in Vlasenica ermordet. Unter den Todesopfern befanden sich auch Salaharevićs Vater und sein Bruder, ein bekannter Basketballspieler. "Es war eine klare Botschaft, dass ich so enden würde wie dieser Ball, das heißt, genau wie mein Bruder", sagte Salaharević zu bosnischen Medien.

Die Angriffe nehmen nicht zufällig zu. Der Kreml-Freund und völkisch-nationalistische Präsident der Republika Srpska (RS), Milorad Dodik, dreht an der Eskalationsschraube. Kürzlich ließ er seine Anhänger auf der Verwaltungslinie zwischen der Republika Srpska und der Föderation aufmarschieren. Dodik will die RS abspalten und an Serbien anschließen, heute heißt dieser Traum von einem ethnisch homogenen Nationalstaat "Serbische Welt". In den 1990ern hat er zu ethnischen Säuberungen und Genozid geführt. In Ostbosnien an der Drina lebten vor dem Genozid mehrheitlich Muslime, heute sind sie in der Minderheit.

Vertuschung statt Aufklärung

Angesichts der Massenverbrechen in den 1990ern wäre es besonders wichtig, in den Schulen für Aufklärung und Sensibilisierung der nächsten Generation zu sorgen. Doch das Gegenteil geschieht in Bosnien-Herzegowina. In Srebrenica, wo im Juli 1995 über 8.000 Bosniaken ermordet wurden, wird im Geschichtsunterricht nach dem serbischen Lehrplan nur gelehrt, dass die Armee der Republika Srpska im Juli 1995 die Stadt "besetzte". Von dem Genozid ist nicht die Rede.

Insgesamt wird nur in drei Gymnasien im gesamten Staat ein multiperspektivischer Unterricht geboten. Ansonsten besuchen Kinder aus Familien, die sich als "kroatisch" definieren, die also katholisch sind, kroatischen Geschichts-, Geografie- und Sprachunterricht. Analog dazu gibt es bosnischen Unterricht für Kinder aus bosniakischen und serbischen Unterricht für serbische Familien. Kinder, die aus Familien kommen, die sich nicht ethnisch definieren wollen, Kinder von Minderheiten oder Kinder aus sogenannten "gemischten" Familien werden auch in dieses System gezwungen.

Geschichtsunterricht als Spaltwerkzeug

Denn nach dem Friedensvertrag von Dayton 1995 wurden die Bildungsagenden nicht auf die Staatsebene geholt, sondern bei der Entität Republika Srpska und den zehn Kantonen im Landesteil Föderation verankert. Diese Entscheidung führte dazu, dass das Gemeinsame ausgespart und das Auseinanderdriften der Gesellschaft im Sinne der Nationalisten gefördert wird. Von einem echten Frieden ist man weit entfernt. Insbesondere im Fach Geschichte werden drei Versionen der Ereignisse im vergangenen Jahrhundert vermittelt – aber nicht hintereinander, sondern getrennt voneinander. Auch deshalb gibt es keine Fortschritte in der Nationsbildung.

Laut einer neuen Studie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wird in allen drei Curricula – dem bosnischen, dem serbischen und dem kroatischen – die eigene Gruppe als moralisch rechtens dargestellt und scharf von den anderen abgegrenzt. Das stärkt die eigene Opferidentität, und den anderen Gruppen wird implizit ein Mangel an Moral angekreidet. Verbrechen, die von Angehörigen der "eigenen" Gruppe begangen werden, werden oft nicht erwähnt, relativiert oder gerechtfertigt.

"Solange der Geschichtsunterricht nicht beginnt, diese stereotypen, monolithischen und sich gegenseitig ausschließenden historischen Darstellungen von 'uns' und 'denen' zu verändern, besteht keine Chance, dass er zum gegenseitigen Verständnis und zur Versöhnung beiträgt“, schreibt die Autorin Heike Karge.

Der Inhalt des "bosnischen" Lehrbuchs für den Geschichtsunterricht mache es "wahrscheinlich, dass Lehrer nur über Kriegsverbrechen gegen Bosniaken und das Leid bosniakischer Zivilisten und Kinder sprechen", wird in der OSZE-Studie kritisiert. "Das Lehrbuch transformiert die formal ethnisch neutralen Themen der Lehrpläne in eine manichäische Erzählung bosniakischer Opfer und serbischer Täter." So wird etwa nicht hervorgehoben, dass auch Serben die Stadt Sarajevo verteidigten.

Im Lehrplan für Geschichte in serbischer Sprache ist wiederum von "Ursachen und Folgen des Bürgerkriegs" die Rede. Dies ist irreführend. Denn wie der Chefankläger des UN-Gerichtshofs, Serge Brammertz, erst diesen Mai feststellte, bestätigten die Urteile gegen die ehemaligen Sicherheitsbeamten des Staates Serbien, Jovica Stanišić und Franko Simatović, noch einmal deutlich, dass in Bosnien und Herzegowina eben kein Bürgerkrieg oder interner Krieg, sondern ein internationaler Konflikt stattfand.

In den Lehrbüchern in kroatischer Sprache spielt wiederum der Krieg gegen Kroatien (1991–1995) eine größere Rolle als der Krieg gegen Bosnien und Herzegowina (1992–1995). Die von Angehörigen der kroatischen Streitkräfte begangenen Verbrechen werden mit den Entscheidungen der serbischen Führung gerechtfertigt.

Auch positive Beispiele in den Büchern

Es gibt aber auch positive Beispiele in den Schulbüchern, etwa im Schulbuch bosnischer Sprache, in dem die NGO Frauen in Schwarz in Serbien erwähnt wird, die den Völkermord in Srebrenica anerkennt. Dies veranschauliche, dass nicht jeder Serbe der Meinung ist, dass in Srebrenica kein Völkermord stattgefunden hat, so die OSZE-Studie. Allerdings wird im Lehrbuch bosnischer Sprache ignoriert, dass rund um Srebrenica vor 1995 auch serbische Zivilisten getötet wurden, darunter Frauen und Kinder.

Insgesamt problematisch sind die Referenzen zwischen den 1990er-Jahren und dem Zweiten Weltkrieg. So missbraucht etwa das Lehrbuch in serbischer Sprache die Erfahrungen des im faschistischen NDH-Staat verübten Völkermords an Serben, um die Gründung der Republika Srpska im Jahr 1992 zu legitimieren. "Um das serbische Volk vor einer möglichen Wiederholung des Völkermords zu bewahren", steht in dem Schulbuch, "wurde am 9. Jänner 1992 die Republik des serbischen Volkes" geschaffen. Tatsächlich wurde aber zu dem Zeitpunkt überhaupt kein Völkermord an den Serben geplant – im Gegenteil: Die Führung der Republika Srpska bereitete einen Völkermord an den Bosniaken vor.

Kritische statt nationale Geschichte

Gerade in der gespaltenen bosnischen Nachkriegsgesellschaft wäre es wichtig, von der Idee einer "monumentalen Nationalgeschichte" zum Konzept einer "kritischen Geschichte" überzugehen. Eine solche Multiperspektivität bedeutet aber nicht, dass zugelassen wird, dass Fakten infrage gestellt werden, sondern dass verschiedene Perspektiven erörtert werden. Die Schüler sollten damit auch angeregt werden, die Narrative ihrer Eltern infrage zu stellen. Aber auch das fehlt in Bosnien-Herzegowina.

Außerdem mauern viele Familien auf dem Balkan, wenn es um die Kriegsvergangenheit geht. Die Journalistin Marija Barišić, die in Wien lebt, forderte deshalb 2022 in einem "Kommentar der anderen" für den STANDARD von Serbinnen und Serben wie Kroatinnen und Kroaten, sich mehr einzumischen, "den rassistischen Parolen ihrer Eltern zu widersprechen, mit ihnen zu streiten und es selbst besser zu machen".

Sie wünsche sich eine neue, mutige nächste Generation, die endlich aufhöre, Kriegsverbrecher zu verherrlichen, und nicht glaube, andere abwerten zu müssen, um selbst wertvoll zu sein, schrieb sie. In Bosnien-Herzegowina und in Serbien sind allerdings nach wie vor alte Eliten an der Macht. Es gab nie eine Stunde null, in der rassistisches ethnonationalistisches Denken als Ursprung des Übels gebrandmarkt wurde. Solange die Kräfte dominieren, die noch immer ethnisch homogene Staaten schaffen wollen, wird sich wohl auch nichts an der Bildungspolitik ändern.

Getrennte Schulen

Auch im Landesteil Föderation gibt es die Idee der Trennung. In 56 Schulen werden die Schüler sogar räumlich voneinander getrennt unterrichtet. "Zwei Schulen unter einem Dach" heißt das Konzept, das von der OSZE nach dem Krieg eingeführt wurde. Bosniakische und kroatische Kinder dürfen mancherorts nicht einmal denselben Schulbus benutzen. Bürgerinitiativen halten mitunter dagegen. So rissen im Jahr 2019 Schüler in der mittelbosnischen Stadt Travnik einen Zaun zwischen einer katholischen und einer "gemischten" Schule nieder. Über ein Jahr lang wehrten sich auch die Schülerinnen und Schüler der Stadt Jajce gegen Segregation.

Der Wissenschafter und Aktivist Samir Beharić aus Jajce meint jedoch, dass "seit Anfang der 2000er-Jahre die Schulen die ethnische Kluft unter jungen Menschen in der gesamten Föderation vergrößert haben". Darüber hinaus nutze die kroatische Partei HDZ den Begriff des "Schutzes der Rechte kroatischer Studenten", um die Segregation zu legitimieren.

Der ehemalige Leiter des Büros des Europarats in Belgrad, Tobias Flessenkemper, erklärt, worum es eigentlich geht: "Das Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten ermöglicht, dass bestimmte Unterrichtsinhalte nach den Bedürfnissen von Minderheiten gestaltet werden können, wenn andernfalls etwa die Sprache nicht dargestellt würde."

Gemeinsames Verständnis von Landeskultur

Zu den diskriminierten Minderheiten gehörten alle, die sich nicht ethnisch definieren wollen, sowie 17 Minderheiten, etwa Roma, Juden, Albaner, Tschechen und Ukrainer. "Die drei staatstragenden Völker hingegen sind privilegiert und können ein gemeinsames Curriculum anstreben, das auch sensible Themen zukunftsgerichtet behandelt", so Flessenkemper. Dazu habe der Europarat zahlreiche Empfehlungen formuliert, gerade weil das Erarbeiten eines gemeinsamen Verständnisses der Landeskultur und Geschichte unabdingbar für die europäische Einigung sei.

Beharić meint, dass der politische Wille fehle, die Segregation in Bosnien-Herzegowina zu beenden. "Das wird eher durch Entvölkerung als durch politischen Willen abgeschafft werden, was ich als Niederlage unserer Gesellschaft betrachte“, meint er sarkastisch.

Der Bosniake Mirnes Zahirović, der in Srebrenica lebt und dessen Kinder dort in die Schule gehen, befürchtet indes, dass das "Umschreiben der Geschichte, die Unterdrückung elementarer Menschenrechte und das Ignorieren und Leugnen bewiesener Tatsachen den Samen des Hasses unter jungen Menschen säen". Die Lehrer folgten meist der Linie des geringsten Widerstands und wollten ihren Arbeitsplatz nicht gefährden. "Ich möchte aber, dass meine Kinder aus der Geschichte statt aus verzerrten Fakten lernen, denn nur die Annahme der Wahrheit kann zu Versöhnung und Vergebung unter den Menschen führen", sagt er zum STANDARD. (Adelheid Wölfl, 9.10.2023)