Adipöse Frau lehnt an der Fensterbank und hält sich mit ihren Händen das Gesicht zu
Adipositas-Betroffene schämen sich häufig und suchen die Schuld für die Erkrankung bei sich selbst.
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Adipositas-Betroffene seien einfach zu willensschwach und zu faul zum Abnehmen: Dieser Mythos hält sich immer noch hartnäckig. Dabei ist Adipositas eine chronische Stoffwechselerkrankung, die oft mit zahlreichen Begleiterkrankungen einhergeht – das betrifft auch die psychische Gesundheit, wie aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen und Praxisberichte zeigen.

Zwei von fünf Adipositas-Betroffenen leiden auch an einer psychischen Erkrankung. "Wir behandeln immer mehr Patientinnen und Patienten mit Adipositas, die bereits schwere psychische Belastungen aufweisen", berichtet Yvonne Winhofer-Stöckl, Internistin und Oberärztin an der Adipositas-Ambulanz im AKH Wien und assoziierte Professorin an der Med-Uni Wien.

Im Rahmen einer aktuellen Wiener Studie wurden die Versicherungsdaten von neun Millionen Österreicherinnen und Österreichern zwischen 1997 und 2014 ausgewertet. Die Analyse von knapp 45 Millionen Krankenhausaufenthalten zeigt: "Adipositas ist die zuerst gestellt Diagnose, der innerhalb weniger Jahre psychische Erkrankungen folgen", so Alexander Kautzky, Oberarzt an der psychiatrischen Ambulanz am AKH Wien, assoziierter Professor der Med-Uni Wien und Autor der Studie.

Betroffene werden in allen Alltagsbereichen stigmatisiert

Barbara Andersen, Klinische und Gesundheitspsychologin, Adipositas-Betroffene und Mitbegründerin der Österreichischen Adipositas-Allianz, kennt die Erkrankung aus mehreren Perspektiven. Das begann schon früh: "Ein Satz ist in meiner Familie häufig gefallen: 'Es ist schon genug, denk an dein Bäuchlein!' Ich habe in Folge meine erste Diät im Alter von zwölf Jahren gemacht", erinnert sie sich.

Vorurteile und Stigmatisierung begegnen Patientinnen und Patienten in allen Bereichen ihres Alltags: "Wenn man von Adipositas betroffen ist, ist es schwerer, Ausbildungs- oder Arbeitsplätze zu bekommen oder auf der Karriereleiter aufzusteigen. Attribute wie 'undiszipliniert' oder 'verantwortungslos' werden einem schon bei der Bewerbung zugeschrieben." Sie berichtet, dass Adipositas-Betroffene sich bei Arztbesuchen häufig nicht ernst genommen fühlen, da Symptome häufig rein auf das Gewicht zurückgeführt werden.

Wechselwirkung von Körper und Psyche

Adipositas und psychische Erkrankungen wiesen Korrelationen auf, erklärt Kautzky, die durch präzise Blutuntersuchungen nachweisbar seien. "Wenn unsere Zellen mit übermäßiger Energiezufuhr konfrontiert werden, entsteht Zellstress, und Entzündungsreaktionen treten ein. Das könnte etwa ein Risikofaktor für Depressionen sein. Denn auch hier sind Entzündungen im Körper messbar", erläutert Kautzky.

Eine weitere Wechselwirkung betrifft die Ernährung. "Die Appetitregulation im Hirn ist eng mit dem limbischen System verbunden, in dem Botenstoffe wie das sogenannte Glückshormon Dopamin ausgeschüttet werden. Es zeigt sich, dass Menschen mit Adipositas für die gleiche Menge an ausgeschüttetem Dopamin mehr Nahrung benötigen als Normalgewichtige. Wir wissen auch, dass ein Mangel an Dopamin zu den Ursachen einer Depression zählt", erklärt Winhofer-Stöckl.

Generell hat Ernährung einen starken Einfluss auf die Psyche – direkt und über das Mikrobiom im Darm. So werden bestimmte Darmbakterien beispielsweise mit erhöhtem Stress und Depressionen assoziiert. "Schlechte Ernährung kann die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Wer von einer psychischen Erkrankung betroffen ist, neigt jedoch zur Vernachlässigung gesunder Ernährungsgewohnheiten. Eine Spirale entsteht, in der sich Erkrankungen wie die Adipositas wiederfinden", erklärt Kautzky.

Mehr Sport als simple Lösung?

Adipositas ist eine chronische Stoffwechselerkrankung, die zu zahlreichen Folge- und Begleiterkrankungen führen kann. "Gerade wenn sich bereits Folgeerkrankungen mechanischer Natur manifestiert haben, führt das für Betroffene zu einer starken psychischen Belastung im Alltag", führt Winhofer-Stöckl an.

Andersen kennt das, sie berichtet von sozialem Rückzug und Isolation: "Es ist mit sehr viel Scham verbunden, wenn man bemerkt, dass man etwa beim Wanderausflug mit Freunden einfach nicht mithalten kann, schwer Luft bekommt und schwitzt." Es entstehe eine weitere Abwärtsspirale, erklärt Kautzky: "Die sportliche Betätigung ist zunehmend schwierig, Bewegung wird aber präventiv gegen Depressionen empfohlen. Gleichzeitig ist Fakt, dass sich Menschen mit Depressionen weniger bewegen – was wiederum das Risiko für metabolische Erkrankungen erhöht."

Screening psychischer Gesundheit soll in Adipositas-Guidelines

"Aktuell gibt es zu wenige Anlaufstellen zur psychologischen Behandlung von Adipositas-Betroffenen. Das wird mit der steigenden Zahl an Patientinnen und Patienten zunehmend zum Problem", warnt Winhofer-Stöckl. Andersen, die sich vor 17 Jahren einer Magenbypass-Operation unterzogen hat, kritisiert die fehlende psychologische Nachsorge nach der Adipositas-Chirurgie: "Vor der OP wird ein psychologisches Gutachten verlangt, danach jedoch sind wir Betroffenen ganz auf uns allein gestellt."

In Anbetracht der Ergebnisse seiner Studie fordert Kautzky: "Die wichtigste Botschaft der Studie ist, dass bei Adipositas frühzeitig ein Screening auf psychische Erkrankungen passieren muss". Er identifiziert eine Versorgungslücke, die es zu schließen gelte: "Umgekehrt ist das bereits verankert: Bei psychiatrischen Erkrankungen empfehlen die Guidelines, auf metabolische Probleme zu achten." (APA, poem, 9.10.2023)