Russland etwa bietet sich nun als Vermittler an – betont aber auch eher eine Seite. In der selbst von Krieg und Terror betroffenen Ukraine wehen – auch virtuelle – israelische Fahnen. DER STANDARD hat sich in den beiden Staaten umgehört, wie die Reaktion auf die Eskalation ausgefallen ist. Und in Israel dazu, wie sie aufgenommen wird.

Ukraine: Schwieriger Kampf um die Aufmerksamkeit

Bereits am Sonntagabend erschien die Flagge Israels auf vielen digitalen Werbeträgern in den Straßen Kiews. Es war ein erwartbares Zeichen der Solidarität. Viele prominente Schriftsteller und Führungspersönlichkeiten in Israel wurden im Gebiet der heutigen Ukraine geboren, dar­unter die vierte Ministerpräsidentin Golda Meir. Doch nicht nur aufgrund der historischen und familiären Verbindungen fühlen sich viele Ukrainer und Ukrainerinnen mit dem Land verbunden. Präsident Wolodymyr Selenskyj etwa zieht seit Tagen Vergleiche zwischen der Gewalt in Israel und dem russischen Angriffskrieg gegen sein Land. Die Erfahrungen der israelischen Entwicklung in einem Klima der ständigen Sicherheitsbedrohungen aus den Nachbarländern wird in der Ukraine längst als ein mögliches Zukunfts­szenario betrachtet. Doch während die Solidarität hierzulande groß ist, stellt sich im Land nach 19 Monaten Krieg auch eine neue Nüchternheit ein.

Video: Russlands Präsident Wladimir Putin sieht in der jüngsten Eskalation des Nahostkonflikts ein Zeichen für eine gescheiterte US-Außenpolitik.
AFP

Namhafte Reporter wie Clarissa Ward von CNN und Paul Ronzheimer von der Bild, die im vergangenen Jahr intensiv aus der Ukraine berichtet haben, halten sich längst in Israel auf. Der Umstand, dass Israel am Samstag den Kriegszustand ausgerufen hat, könnte die internationale mediale Aufmerksamkeit und die Unterstützung aus dem Westen, um die das Land seit Monaten kämpft, weiter mindern.

"Ich bin mir absolut sicher, dass Russland weiterhin das tun wird, was es seit Beginn der Invasion in vollem Umfang getan hat: Städte, Dörfer und die Infrastruktur angreifen und dabei Zivilisten töten", sagt Kristina Berdynskykh. Sie gilt als eine der renommiertesten Journalistinnen des Landes und berichtet unter anderem für französisch- und englischsprachige Medien. Ihre größte Sorge ist, dass sich die Menschen in der Welt an das Leid in der Ukraine gewöhnen werden. Eines der jüngsten Beispiele dafür: Erst vergangenen Donnerstag tötete eine russische Rakete mindestens 51 Menschen in der Region Charkiw, traf ein 330-Einwohner-Dorf namens Groza, in dem sich eine Trauergesellschaft anlässlich eines gefallenen ukrainischen Soldaten versammelt hatte.

In Kiew wurden zahlreiche beleuchtete Werbeanzeigen bereits am Wochenende mit der israelischen Flagge geschmückt. Ein Zeichen der Solidarität – und der gefühlten Nähe mit dem angegriffenen Land.
EPA/SERGEY DOLZHENKO

Eine von ukrainischen Medien zitierte Sprecherin der Regionalversammlung sagte, dies sei der Angriff mit den meisten Toten seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 gewesen. Journalisten vor Ort zeigten Bilder von Leichen. "Alle großen ausländischen Medien haben über Groza berichtet, nachdem es passiert war. Doch bereits jetzt, am Tag der Beerdigungen der Opfer, ist der Vorfall kein Thema mehr", sagt Berdynskykh. Genau das sei im Interesse Moskaus: die internationale Unterstützung und Spendenbereitschaft zu untergraben und gleichzeitig weiter Falschinformationen zu verbreiten.

Das große Leid der Bevölkerung, der permanente Stress, die militärische Lage an der Front machen sich mittlerweile auch in Kiew bemerkbar. Auf einem Kulturfestival, das am Wochenende dort abgehalten wurde, beschrieben manche Besucher die Stimmung derzeit als eine Mischung aus Zweckoptimismus, Apathie und Zynismus. Gleichzeitig bereiten sich viele auf einen harten Winter vor. Russische Angriffe auf die Infrastruktur und auf die Stromversorgung könnten das Land wieder in ein Energiedebakel stürzen und eine weitere humanitäre Krise auslösen.

Russland: Vermittlungsangebot und Kadyrows "Friedenstruppen"

Viele Moskauerinnen und Moskauer lässt das Geschehen in Israel nicht kalt. Sie legen Blumen vor der israelischen Botschaft nieder. Das offizielle Russland zeigt sich überrascht von der Eskalation in Nahost. So formuliert es zumindest Michail Bogdanow, der stellvertretende Außenminister und Sonderbeauftragte des Präsidenten für den Nahen Osten und Afrika, gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax.

Russland forderte beide Seiten auf, das Feuer sofort einzustellen und auf Gewalt zu verzichten. Und bringt sich inzwischen als Vermittler im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern in Stellung. Denn Moskau hat Kontakte in beide Richtungen. Man sei besorgt über die Eskalation, zitiert die Zeitung RBC Maria Sacharowa, die Sprecherin des Außenministeriums. Die derzeitige Eskalation sei eine "weitere äußerst gefährliche Manifestation eines Teufelskreises der Gewalt". Laut Sacharowa seien UN-Resolutionen nicht eingehalten worden. "In diesem Zusammenhang bestätigen wir unsere prinzipielle und konsequente Position, dass es für diesen Konflikt, der sich seit 75 Jahren hinzieht, keine gewaltsame Lösung gibt und er ausschließlich mit politischen und diplomatischen Mitteln durch die Einrichtung eines umfassenden Verhandlungsprozesses gelöst werden kann."

Am Dienstag traf sich Präsident Wladimir Putin mit dem irakischen Ministerpräsidenten Mohammed Shia Al-Sudani. "Ausführlich werden Fragen der Entwicklung der vielfältigen russisch-irakischen Zusammenarbeit sowie aktuelle Themen der internationalen Agenda besprochen, insbesondere die Situation im Nahen Osten", heißt es in einer Mitteilung des Kreml. In den kommenden Tagen wird Mahmud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, in Moskau erwartet.

Russland verurteilt zwar die Gewalt von beiden Seiten, wirft aber den USA vor, die Bedeutung eines unabhängigen palästinensischen Staates nicht anzuerkennen. Gemäß RBC bezeichnete Dmitri Medwedew, der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats, die Kämpfe zwischen der Hamas und Israel als ein Ereignis, mit dem man hätte rechnen können. Die USA müssten als wichtiger Akteur in der Region aktiv an der palästinensisch-israelischen Lösung arbeiten. Stattdessen seien sie in den Konflikt in der Ukraine geraten, so Medwedew.

Ramsan Kadyrow hingegen, der Führer der russischen Teilrepublik Tschetschenien, würde am liebsten seine Truppen schicken. "Wir unterstützen Palästina. Und wir sind gegen diesen Krieg." Tschetschenische Kämpfer könnten für "Ordnung" sorgen: "Bei Bedarf sind unsere Einheiten bereit, als Friedenstruppen zu fungieren." Allerdings, und das dürfte Kadyrow wenig freuen, haben Hamas-Kämpfer die Kadyrow-Moschee im israelischen Abu Ghosh beschädigt. Benannt nach Kadyrows Vater, wurde sie 2014 eröffnet.

Außenpolitisch will Russland punkten. Und einen Nebeneffekt erhofft man sich auch noch: Nach der Teilmobilisierung im vergangenen Jahr fanden viele hochqualifizierte Auswanderer Unterschlupf in Israel. Bei einer möglichen Rückkehr nach Russland müssten sie keine Bestrafung fürchten, heißt es aus dem Kreml vorsorglich. In Kürze werde ein Evakuierungsflug vorbereitet. (Jo Angerer aus Moskau, Daniela Prugger aus Kiew, 11.10.2023)

Video: Solidaritätskundgebungen für beide Seiten in Österreich und in vielen Ländern weltweit
AFP/DER STANDARD/mvu